Von Dr. Remo Reginold
Künstliche Intelligenz (KI) ist heute ein Sammelbegriff und dient als Auffangnetz für unterschiedlichste Technologien und Konzepte. Durch die begriffliche Unschärfe und die Popularisierung ist der Begriff KI ein höchst erfolgreiches Werkzeug von Marketing- und Brandingstrategen. Es scheint, dass es wegen des Nexus der Uneindeutigkeit, des Nichtwissen und Halbwissens einen stillschweigenden Konsens über dessen vermeintliche Bedeutung und den erhofften Nutzen gibt. Durch diese begriffliche Vagheit kann der Ausdruck KI von unterschiedlichsten Akteuren strategisch eingesetzt und verwertet werden. Die Ubiquität des Terms KI kann nicht nur von der Wirtschaft und von Unternehmen als Klausel für technologisches Disruptionspotential und innovative Überlegenheit eingesetzt werden, sondern auch von staatlichen Akteuren. Darum ist es nicht verwunderlich, dass über 24 Nationen inzwischen KI-Strategien entwickelt haben. So haben beispielsweise die Vereinigten Arabischen Emiraten seit 2017 ein KI-Ministerium, Grossbritannien will sich als KI-Ethik-Hub hervortun und Indien hat mit «KI-Garage» eine Strategie, um KI-Dienstleistungen für Ländern des Südens zu offerieren. Wie können aber diese KI-Strategie geopolitisch gedeutet werden? Dieser Frage möchte ich in diesem Essay nachgehen.
Mit öffentlich zugänglichen Strategiepapieren, die man im Jargon der internationalen Politik als Weissbücher bezeichnet, können Staaten ihre Sicht auf komplexe Themen und Entwicklungen darlegen und unterschiedlichsten Anspruchsgruppen Orientierung für ihre eigenen politischen Entscheidungen liefern. Mit entsprechenden historischen, philosophischen und politischen Referenzen sind sie oft auch Grundlage für die Legitimation staatlicher Praktiken. Solche Weissbücher werden von Staaten gerne auch als Element von staatlichen Public Relations Bemühungen angesehen.
Wenn nun Staaten KI-Weissbücher entwickeln, dann verknüpfen sie oft wirtschaftspolitische Agenden mit politischen und geostrategischen Opportunitäten. Wirtschaftsprogramme helfen Nationen ihre Fähigkeiten gerade im Dienstleistungs- und Wissenssektor auszubauen und zu stärken. Mit der Betonung ihrer wirtschaftlichen Ambitionen und ihren unterschiedlichen politischen Gewichtungen können Staaten dem Begriff KI einen eigenen Stempel aufdrücken. Mit diesem Stempel können KI-Weissbücher wiederum für die Potenz, die Machtprojektion und die geopolitische Deutungshoheit genutzt werden. Mit wissenschaftlicher und technologischer Vorherrschaft können Staaten so indirekt ihre Vormachtstellung im weltpolitischen Gefüge sichern.
Das aktuelle KI-Wettrennen erinnert an den Kalten Krieg und lässt Befürchtungen aufkeimen, dass die Rivalität zwischen den USA und China zu einem neuen bipolaren Kampf um die Vorherrschaft in der Welt ausbrechen wird. Dieser Befürchtung kann entgegengehalten werden, dass die globalen Handelsnetze und Finanzmärkte sowie die technologische Hyperkonnektivität Staaten vielmehr zu Abhängigkeiten und Kooperationen zwingt. Im Wissen um diese Realität werden – in Anlehnung an Wladimir Putins Aussage, dass derjenige, der KI beherrscht, die Welt beherrschen werde, Elon Musks Twitter-Statement und Jack Mas Aussagen am WEF 2019, dass KI Grundlage für den nächsten Weltkrieg seien – KI-Strategien für machtpolitische Projekte eingesetzt.
Obwohl man bei der Informationstechnologie fast schon reflexartig ans «Silicon Valley» denkt, scheint, dass im Bereich der KI chinesische Unternehmen anderen Unternehmen und Staaten den Rang langsam aber sicher abringen. Beispielsweise haben Pekings Wirtschaftsprogramme «Made in China 2025» sowie «Health China 2030» Chinas Kompetenzen in der KI-Technologie systematisch gefördert. So wurden etwa in China die meisten KI-relevante Patente angemeldet sowie die meisten Risikokapital-Gelder vergeben.
Das Beispiel der Volksrepublik China zeigt eindrücklich, wie Peking es schafft über KI-Projekte sich strategisch zu positionieren. Hier eine kleine Decodierung.
Chinas geopolitische Agenda ist ohne ihr holistisches Sicherheitskonzept nicht zu verstehen. In der Militärstrategie 2014 wird jeder Aspekt zur Erneuerung Chinas unter den Scheffel der Sicherheitsdoktrin gestellt. Unter diesem sicherheitspolitischen Schirm ist auch die Entwicklung der KI-Technologie zu lesen. Peking verlinkt in dieser Militärstrategie explizit die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung mit dem Faktor Sicherheit.
Mittels dieses holistischen Sicherheitsverständnisses, welches dem Top-Down Prinzip (cf. dingceng sheji) folgt, muss auch Chinas KI-Weissbuchstrategie verstanden werden. Das Programm «New Generation Artificial Intelligence Development Plan» (AIDP), welches 2017 veröffentlicht wurde, ist die Grundlage ihrer KI-Strategie. Top-Priorität geniesst dabei die Auslandsabhängigkeiten für Schlüsseltechnologien und Infrastrukturen abzubauen. Damit können sie zukünftige diplomatische und wirtschaftliche Druckversuche aus dem Ausland besser abfedern. Peking kann aber auch mit dem Sprung von einem Entwicklungsland direkt zum Technologie-Pionier technologische Entwicklungen mitprägen aber auch neue Abhängigkeiten schaffen, was man aktuell gerade im Bereich 5G beobachten kann. Zudem können sie ihr eigenes Narrativ bestimmen, weg von der «Werkbank der Welt» hin zu einem potenten «Technologie-Haus».
Solche Narrative zu erzählen sind für Weissbücher wichtig, um entsprechende Wirkung im Raum erzielen zu können. Tatsache ist, dass China sich selber zwischen den Welten bewegt: zwischen einem ländlichen westlichen Hinterland und einem stark industrialisierten Südosten mit entscheidenden Hafenstädten für den globalen Warenhandel. Dieses Bild kaschiert China geschickt, um seine Position in der Welt zu festigen. Bei genauerer Analyse lässt sich jedoch festhalten, dass chinesische Unternehmen vornehmlich starke Applikationen und Dienstleistungstechnologien entwickelt haben (vgl. Gesichts- und Stimmenerkennung, etc.) aber es oft an KI-Grundlagentechnologien sowie an Hardware (vgl. Halbleitertechnologie) fehlt. Das sieht man auch daran, dass die meisten chinesischen KI-Forschungspublikationen mit westlichen Partnern geschrieben wurden. Auch Vertreter der chinesischen Akademie der Wissenschaften haben am 13. Kongress des Ständigen Komitees darauf hingewiesen, dass den Chinesen die technischen Standards, Software-Architekturen und Halbleitermechanik für die AI-Technologie fehlen.
Nichtsdestotrotz scheint die chinesische Führung diesbezüglich eine Vision und strategische Ziele zu verfolgen. Zudem können Weissbücher nicht nur für die Aussenwirkung eingesetzt werden, sondern auch regionale Förderung betrieben und eine Motivation darstellen. So haben Shanghai und Tianjin zugesagt über 100 Milliarden Dollars in einem Förderfonds für KI zur Verfügung zu stellen. Ein «Bottom-Up» Antwort auf eine «Top-Down» Strategie.
Einen weiteren interessanten Spin hat Peking in der Weissbuchstrategie 2018 geliefert. Mit der offiziellen Stellungnahme, dass die privatwirtschaftlich geführten Unternehmen «Baidu», «Alibaba», «Tencent», «iFlytek», und «SenseTime» zu chinesischen AI Champions ernannt wurden, hat der sozialistisch geführte Staat seinen eigenen Privatunternehmen ein wichtiges Zugeständnis gemacht. Gerade im Bereich der Verteidigung und Sicherheit hat die chinesische Regierung bis anhin auf staatliche Konzerne gesetzt. Da KI gerade in diesem Bereich entscheidende Innovationen liefern kann, ist es umso bemerkenswerter, dass Peking sich indirekt für privatwirtschaftliche Verhältnisse ausspricht. Ein guter Spin für die geopolitische Aussenwirkung.
Mit ihrer KI-Strategie schaffen die Chinesen nicht nur Aussenwirkung, sondern sie schaffen auch operative Kraft auf den Boden zu bringen. Um ihre Technologien zu exportieren, neue Allianzen aufzubauen und Chinas Ideen zu internationalisieren hat die chinesische Führung 2015 in einem Weissbuch ihre «Digital Silk Road» präsentiert. Darin geht es primär darum, weltweite digitale Infrastrukturen aufzubauen, die Globalisierung chinesischer Firmen voranzutreiben aber auch ihren Datenpool zu erweitern und so die globale Datenkette sicherzustellen. Zudem geht es aber auch darum, durch Kooperation und Konnektivität die unterschiedlichsten Länder mit China zu verbinden. Wissensaustausch, Techtransfer aber auch chinesische Standards zu internationalisieren stehen dabei im Vordergrund. Mit dieser umfassenden
Geostrategie wollen sie nicht nur wirtschaftliche Abhängigkeiten schaffen, sondern es stehen durchaus politische Motive im Zentrum. Diese sind weniger ersichtlich, werden dafür umso strategischer verfolgt.
Es geht darum, dass China seine Standards und seine Werte exportieren und so vornehmlich auf dem Parkett der internationalen Politik Einfluss geltend machen kann. Peking will aktiv die internationale Ordnung mitgestalten und das tun sie vortrefflich. So ist das kommunistisch geprägte China gewilligt an globalen Richtlinien für KI mitzuarbeiten. China hat 2018 in einem UN-Positionspapier ausdrücklich darauf hingewiesen, dass autonome Waffen verboten werden sollten. Die chinesische Definition von autonomen Waffen war aber höchst konfus definiert, so dass letztlich das Verbot wieder haltlos war. Für die mediale Präsenz war es aber ein genialer Schachzug: China arbeitet aktiv an der internationalen Verrechtlichung im KI-Bereich mit. Damit schaffen sie Glaubwürdigkeit und neue Partner. Durch die Hintertür schaffen sie somit aber auch ihre eigenen Standards international rechtlich zu verankern. Das ist Geopolitik auf einem hoch nuancierten Niveau.
Mit der Einbindung der KI-Strategie in die «Digital Silk Road» und die wiederum in die «Belt-and-Road-Initiative» fasziniert und irritiert das Land gleichzeitig. China hat es in einem gewaltigen Schritt geschafft, sich mit Firmen wie «Huawei» und «SenseTime» technologisch an die Weltspitze zu katapultieren, aber zugleich durch gezielte Investitionen Ländern von sich abhängig zu machen. Dass es dabei nicht nur um wirtschaftliche Abhängigkeiten geht, hat die Normalisierungsstrategie der chinesischen KI-Technologie gezeigt. Es geht Peking darum, dass seine Werte und politischen Vorstellungen international anerkennt und übernommen werden. Die Entwicklung und Proliferation der Gesichtserkennungs- und Überwachungstechnologie chinesischer Prägung ist dabei das beste Beispiel. Das Narrativ zeigt sich etwa auch darin, dass das westliche Konzept der Smart City nach chinesischer Lesart zur Safe City wird.
Wenn wir uns mit dem Thema KI und Geopolitik auseinandersetzen wollen, dann müssen wir uns bewusst sein, dass nebst Technologien, Infrastrukturen und Cyber-Systemen Länder systematisch diese zukunftsweisenden Entwicklungen für ihre eigene machtpolitische Projektionsfläche nutzen. Im Falle von China geht es nicht nur um Projektionsbilder, sondern auch handfest darum mittels Technologie den Sozialismus chinesischer Prägung zu internationalisieren.