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Die Schwäche des Bündnisfalls bei der Nato und der laute Ruf nach einer EU-Armee

An der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) 2025 haben die USA klar gemacht, dass Europa sicherheitspolitisch eigenständiger werden muss. Dies heisst auch, die NATO könnte zukünftig für die europäische Sicherheitsarchitektur nicht mehr Priorität haben und der Bündnisfall in Artikel 5 des NATO-Vertrags scheint juristisch und realpolitisch kaum durchsetzbar. Gibt es eine Bündnisalternative in der europäischen Sicherheitsarchitektur? Eine solche Diskussion wäre notwendig, wenn die EU und Europa eigenständiger werden sollten. 

Art. 5 des NATO-Vertrages[1] statuiert den sogenannten Bündnisfall. «Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Massnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.»

Wie ein Bündnisstaat aber tatsächlich «Beistand leistet», ist dem jeweiligen nationalen Recht anheimgestellt. Jeder Mitgliedstaat entscheidet somit selbst über Art und Umfang seiner Unterstützung. Es gibt keine Verpflichtung zur militärischen Unterstützung; die Hilfe kann auch

  • moralischer Natur sein, beispielsweise durch Verurteilung des Angriffs;
  • wirtschaftlicher Natur sein, beispielsweise mit der Ergreifung von Wirtschaftssanktionen oder wirtschaftsstabilisierenden Massnahmen im Bündnisstaat;
  • humanitärer und bevölkerungsschutzspezifischer Natur sein, beispielsweise durch Katastrophenschutz und medizinische Hilfe.

Diese Unterstützungsmassnahmen sind insofern primär von Bedeutung, als die Unterstützung «verhältnismässig» sein muss. Es wird also im Einzelnen geprüft, ob es kein milderes Mittel als die anvisierte Unterstützungsleistung gibt, um das erstrebte Ziel zu erreichen. Damit kommt eine militärische Unterstützung kaum mehr in Betracht.

Der Bündnisfall kann ferner konkret nur mit einstimmiger Zustimmung aller Mitgliedstaaten ausgerufen werden.

All diese Einschränkungen führten dazu, dass in der gesamten Geschichte der NATO bisher nur einmal eine militärische Unterstützung zum Tragen kam: im Anschluss an die Terrorakte vom 11.9.2001.

Die nun in den letzten Tagen kontrovers diskutierte Fortentwicklung der bislang bestehenden EU-Battlegroups und der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) zu einer vollständigen EU-Armee hätte da andere Voraussetzungen. EU-Streitkräfte könnten als eine von den Mitgliedstaaten weitgehend autonome Institution mit einer eigenen EU-Strategie ausgestaltet werden. Allerdings ist die Verteidigung das Kernstück der nationalen Souveränität. Ein derartiger Souveränitätsverlust würde von der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten kaum hingenommen. Kommt hinzu, dass insbesondere in Europa ganz unterschiedliche strategische Kulturen, Feindbilder und Bedrohungswahrnehmungen existieren. Es ist daher zu vermuten, dass Europa auch in Zukunft eher auf den kaum anwendbaren Bündnisfall des NATO-Vertrags setzt, als dass die Militarisierung der EU voranschreitet.

Dr. iur. Esther Omlin, FH OST, Leiterin CAS Geopolitik, Infrastrukturen und Sicherheit sowie assoziiert mit dem Swiss Institute for Global Affairs (SIGA) 


[1] Der Nordatlantikvertrag vom 4.4.1949, verabschiedet in Washington (NATO - Official text: The North Atlantic Treaty, 04-Apr.-1949).