Unsere westlichen Gesellschaften, vor allem aber die Politik und Medien, sind zunehmend von strategischer Nervosität getrieben. Ausdruck davon können bei Zwischenfällen Überreaktionen und Hysterie sein. Diese können grösseren Schaden anrichten als das Ereignis selbst. Das Provozieren dieses Überreagierens kann durchaus vom Auslöser mitkalkuliert sein, wenn es sich um bewusste Aktionen handelt. Wenn dadurch auch das Urteilsvermögen von Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern beeinflusst wird, ist die Wirkung maximal, unabhängig vom direkten Effekt. In diesem Fall wäre es eine Art von Informationskriegsführung, die mit der Berechenbarkeit von unserem Medien- und Politiksystem spielt. Es wird ein Ereignis herbeigeführt, in Kauf genommen oder provoziert, welches von alleine zum Informationsvektor wird und einen gewünschten Effekt oder auch unberechenbare Folgeeffekte auslöst, etwa weitere Unsicherheiten, Angst oder schädliche Übertreibungen. Drei aktuelle Beispiele:
Beispiel 1: Unterseekabel in der Ostsee
Ende November 2024 wurden zwei maritime Kommunikationskabel in der Ostsee zwischen der finnischen Hauptstadt Helsinki und Rostock sowie zwischen Schweden und Litauen beschädigt. Unter Sabotageverdacht war bald ein chinesisches Handelsschiff. Später wurde der Umstand betont, dass der Kapitän russischer Herkunft sei. Das Schiff wurde in der Ostsee festgesetzt. Chinesische Behörden sind offenbar inzwischen bei der Untersuchung im Lead und lassen die betroffenen Länder kooperieren. Sabotage ist wahrscheinlich. Der eigentliche Tatvorgang ist aber dennoch unklar. Wichtig ist jedoch: «Die beiden Kabel funktionieren seit geraumer Zeit wieder. Grössere Beeinträchtigungen für die Verbraucher hat es nach Angaben der Betreiber nicht gegeben.» Das Ereignis selbst hatte neben seiner symbolischen Bedeutung also keine nennenswerten Störungen verursacht.
Anfangs Dezember 2024 wurde erneut ein terrestrisches Datenkabel zwischen Finnland und Schweden beschädigt. Umgehend wurde auch hier von offizieller Seite ein Sabotageverdacht geäussert. Wahrscheinlich und zwischenzeitlich bestätigt ist jedoch ein Unfall durch Bauarbeiten.
Das Dilemma ist Folgendes: Schweigen ist nicht möglich, mediale und teilweise politische Aufbauschung sind kaum zu verhindern. Die Ereignisse werden rasch in eine Reihe von möglichen hybriden «Angriffen» seitens Russlands oder dann gerne auch Chinas eingefügt. Wenn etwas mit dieser hybriden Kriegsführung, die vor allem eine Informationskriegsführung ist, herbeigeführt werden soll, dann Verunsicherung und Überreaktion, die die Glaubwürdigkeit unterminieren können oder zumindest Argumentationslinien angreifbar machen. Dessen müssen sich insbesondere politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger bewusst sein und sich vor diesen dilemmatischen und ambigen Situationen in Acht nehmen.
Beispiel 2: Drohnenhysterie an der US-Ostküste
In den letzten Wochen gab es merkwürdige und vermehrte Drohnensichtungen an der amerikanischen Ostküste, sowie auch in Grossbritannien und Deutschland. Hektische oder auch keine Reaktionen von Sicherheitsbehörden waren die erste Folge. Die Unsicherheit wird auch innenpolitisch verwertet. Zumindest in Grossbritannien und Deutschland scheinen Militärstützpunkte und Infrastrukturen in der Nähe solcher Sichtungen gelegen zu sein, was gewisse Szenarien wahrscheinlicher macht. Unklar ist aber beispielsweise nach wie vor, ob es sich um Drohnenschwärme handelte oder einfach um viele Einzelsichtungen. Primär wurden Russland und China verdächtigt. Schläfer-Spione und sonstige Verschwörungstheorien wie ein iranisches «Mutterschiff» wurden als Erklärung ebenfalls bereits genannt.[1]
Offenbar haben aber die Bundespolizei FBI und die Luftfahrtbehörde der USA inzwischen Entwarnung gegeben und keine Gefährdung der öffentlichen oder nationalen Sicherheit bestätigt. Sie führen etwa Falschsichtungen und Fehlinterpretationen (Verwechslungen) als Erklärungsgrund für die vermehrten Sichtungen an. Dabei könnte man auf die vermeintlichen Löwensichtung in Deutschland 2023 verweisen, wobei sich nach Veröffentlichung der ersten Meldungen zahlreiche Leute gemeldet haben, die dann ebenfalls einen Löwen gesichtet haben wollen, was sich im Nachhinein als falsch erwies.
Das Auseinanderhalten von relevant und irrelevant wird dadurch immer schwieriger. Die Hysterie kann aber auch reale Auswirkungen haben, wenn etwa Flugverbotszonen eingerichtet oder Flughäfen eingeschränkt werden. Denkbar ist auch ein beabsichtigtes oder nicht-intendiertes Ermöglichen von Tarnung und Täuschung, insbesondere das «Übertönen» oder Überlagern im Informationsraum. Das Maskieren durch Rauschen verhindert dann eben doch das Wesentliche kommen zu sehen oder richtig einordnen zu können. Zudem binden solche Phänomene staatliche Ressourcen. Weitere Verunsicherung, Hysterie oder gesellschaftliche Spaltung können die Folgen sein. Man könnte auch von einer strategischen Übersättigung sprechen, die Energie raubt für relevante Themen oder ablenkt von tatsächlichen Bedrohungen. Der Umgang mit solch schnelllebigen und mehrdeutigen Phänomenen ist deshalb eine besondere Herausforderung, der etwa mit einer bewussten Kultur der Informationsraumverteidigung begegnet werden kann.
Beispiel 3: Südkoreas politische Zerreissprobe
Südkoreas Staatschef Yoon Suk Yeol hat inmitten eines Streits über den Staatshaushalt das Kriegsrecht ausgerufen. Die Opposition sei von nordkoreanischen Kräften unterwandert. Soldaten wollten das Parlamentsgebäude abriegeln. Der Präsident wollte die Aufrechterhaltung der Verfassung garantieren. Obwohl es sich primär wahrscheinlich um eine innenpolitische Verzweiflungstat des Präsidenten und seines engeren Umfeldes handelte, scheint sein Narrativ nicht nur abwegig zu sein. Die Bedrohung durch Nordkorea ist dort real und näher als in vielen europäischen Ländern die russische, wobei auch in Europa jegliche Nicht-Aufrüstungsbestrebungen und Friedensanstrengungen rasch als pro-russisch interpretiert werden. Nichtsdestotrotz war die Aktion des südkoreanischen Präsidenten eine massive Überreaktion und stürzt Südkorea in eine politisch-demokratische Krise.
Als Spillover-Effekt wird inzwischen der auch als Linkspopulist bezeichnete Lee Jae Myung als neuer südkoreanischer Staatspräsident gehandelt. In Peking nehme man dies hoffnungsvoll zur Kenntnis, da er einen Ausgleich zwischen USA und China anstrebt und damit im Gegensatz zu seinem Vorgänger keine deutlich pro-westliche, geschweige denn militärische Allianz suchen dürfte. Noch mehr Aufrüstung und prononcierte Positionierungen Südkoreas auf der Weltbühne dürften unwahrscheinlicher werden.[2]
Dr. Urs Vögeli
[1]
Neue Drohnenüberflüge alarmieren Behörden. Manuel Bewarder, NDR/WDR, und Florian Flade, WDR.
13.12.2024.
Stecken Russen-Agenten hinter Drohnen-Sichtungen im Westen? Stephan Felder,
nau.ch. 17.12.2024
Rätselhafte Drohnen am Nachthimmel halten Amerika in Atem. Christian Weisflog, NZZ. 17.12.2024
[2] Lee Jae Myung: So weckt Südkoreas potenzieller Staatschef Hoffnungen in Peking. Table-Media. 17.12.2023.