Dezember 2024
In den letzten Novembertagen 2024 brachen langanhaltende Proteste gegen die Regierung der kleinen Kaukasusrepublik Georgien plötzlich erneut in Massendemonstrationen aus. Diese sowie frühere Proteste wurden alle durch Handlungen der Regierung ausgelöst, die die von Georgien angestrebte Integration in die Europäische Union (EU) gefährden und Georgien angeblich in autoritäre Gefilde und den Orbit von Russland führen sollen. Dementsprechend wird die Situation oft als ein ehrenwerter Kampf einer freiheitsliebenden Bevölkerung gegen eine repressive Regierung dargestellt, die jeglichen Rückhalt verloren habe, und dass das Land kurz vor einer erfolgreichen Volksrevolution stehe. Eine genauere Betrachtung des Swiss Institutes for Global Affairs (SIGA) zeigt jedoch, dass die Lage komplizierter ist, unter anderem da die regierende Partei in der jüngsten Vergangenheit Massenproteste unbeschadet überstanden hat und offenbar mehr Zuspruch in der georgischen Bevölkerung geniesst, als oft suggeriert wird.
Neu belebte Proteste
In der Nacht vom 29. auf den 30. November 2024 sowie in jeder Nacht seither schwollen langanhaltende Proteste gegen den Georgischen Traum, die Partei, die Georgien seit 2012 regiert, plötzlich erneut auf Zehntausende Teilnehmer*innen in den Strassen der georgischen Hauptstadt Tbilisi an und es fanden auch an diversen anderen Orten in Georgien signifikanten Kundgebungen statt. Dies geschah, nachdem in den Wochen zuvor durchgeführte Demonstrationen gegen den Georgischen Traum und den von der Partei beanspruchten Sieg einer Mehrheit von knapp 54% in am 26. Oktober 2024 abgehaltenen Parlamentswahlen trotz weitverbreiteten Anschuldigungen von grossangelegtem Wahlbetrug effektiv gescheitert waren. Diese gegen das Wahlergebnis gerichteten früheren Proteste vermochten zu keinem Zeitpunkt eine kritische Masse zu erreichen und sie fanden oft in einer gedämpften Atmosphäre statt, die teilweise an eine Beerdigung erinnerte.
Was der sterbenden Protestbewegung neues Leben einhauchte, war eine Ankündigung der erneuerten vom Georgischen Traum gestellten Regierung am 28. November 2024, wonach Georgien Bemühungen, Mitgliedschaftsverhandlungen mit der EU zu beginnen, auf mindestens 2028 vertagen würde. Das Ziel einer EU-Mitgliedschaft von Georgien ist in der georgischen Verfassung verankert und ist seit Langem ein Grundpfeiler der Aussenpolitik der kleinen Kaukasusrepublik, wobei Umfragen kontinuierlich zeigen, dass dies von einer überwältigenden Mehrheit der georgischen Bevölkerung befürwortet wird. Befürchtungen, dass die vom Georgischen Traum gebildete Regierung das Land von seinem Kurs Richtung EU abbringen, waren auch das Lebenselixier aller kürzlichen Proteste. Nichtsdestotrotz schien die genannte Ankündigung zumindest in der ersten Nacht keine völlige Veränderung der Lage nach sich zu ziehen. Die Anzahl Protestierender stieg zwar auf einige Tausend an und die Atmosphäre war im Gegensatz zu zuvor erneut beschwingt und aktiv; insgesamt war alles jedoch weit davon entfernt, kritischen Druck auf die Regierung auszuüben.
Dies änderte sich jedoch in den folgenden Nächten, unter anderem wohl, da Polizeigewalt bei der Zerstreuung des ersten Protestes in den frühen Stunden des 29. Novembers 2024 offenbar den Ärger von vielen Georgier*innen angefacht hatte, die dann plötzlich auf die Strasse zogen und die Menge auf mehrere Zehntausende, zu Spitzenzeiten möglicherweise um die 100‘000 anschwellen liess. Die georgische Präsidentin Salome Zourabishvili, deren Rolle eigentlich repräsentativ ist, die jedoch zu einer der schärfsten Kritikerinnen des Georgischen Traums geworden ist, erklärte daraufhin zum wiederholten Male ihre Unterstützung der Demonstrierenden und sprach davon, dass die georgische Bevölkerung eine unwiderrufliche «Widerstandsbewegung» gegen die regierende Partei und deren Politik begonnen hätte. Georgische Protestierende erhielten auch Unterstützungsmeldungen von Vertreter*innen der EU und diversen westlichen Ländern (siehe z.B. hier, hier, hier, und hier). Angesichts all des Gesagten stellen sowohl georgische Demonstrant*innen als auch Medienberichterstattung die Lage regelmässig als den Beginn einer erfolgreichen Volksrevolution dar.
Unausweichliche Revolution?
In Anbetracht der geschilderten Situation scheint es in der Tat oft, als ob der Georgische Traum, nachdem die Partei Vorwürfe einer «gestohlenen» Wahl unerwarteter Weise einfach zu überstanden haben schien, zu kühn geworden ist und mit der Ankündigung einer Vertagung von Bemühungen zu EU-Mitgliedschaftsverhandlungen sowie offenbaren Anweisungen, gewaltsam gegen Protestierende vorzugehen, den Bogen überspannt hat. Und dass sie dies nicht mehr berichtigen kann, da Demonstrant*innen nun nicht weniger als ein Ende des Regierungsmandats von Georgischer Traum fordern und sich die Partei wohl oder übel dem Druck der Strasse beugen werden muss.
Während dies ein mögliches Szenario ist, ist es keineswegs der einzige wahrscheinliche Ausgang. Dies ist umso mehr der Fall, als dass die derzeitige Lage teilweise an Frühling 2024 erinnert, als viele Einschätzungen ebenfalls angegeben hatten, dass gegen den Georgischen Traum gerichtete Massenproteste den Anfang des Endes der Partei eingeläutet hätten.
Nachdem die EU Georgien im Dezember 2023 Kandidatenstatus gewährt hatte, schien der Georgische Traum bereits damals seine Position überschätzt zu haben, als die Partei im April 2024 eine Gesetzesvorlage über «Transparenz von ausländischem Einfluss» vorbrachte. Dieses umstrittene Gesetz, welches vorsieht, dass georgische Organisationen, die mehr als 20% ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhalten, sich als «Organisationen, die die Interessen einer ausländischen Macht verfolgen» registrieren müssen, wird oft, wenn auch in höchst fragwürdiger Weise, mit ähnlicher russischer Gesetzgebung verglichen und als ein Versuch gesehen, Opposition mundtot zu machen. Wie dem auch sei und ähnlich wie im Zuge der neusten Ankündigung des Georgischen Traumes betreffend einer Vertagung von Bemühungen zum Beginn von EU-Mitgliedschaftsverhandlungen, führte die Einbringung der genannte Gesetzesvorlage ebenfalls zu Massenprotesten, die über Wochen anhielten und an Höhepunkten zwischen 100‘000 und 200‘000 Protestierende auf Tbilisis Strassen brachten. Die Gesetzesvorlage zog auch starken diplomatischen Druck von westlichen Ländern nach sich: die EU setzte den Prozess von Georgiens EU-Kandidatur de facto aus und hielt finanzielle Hilfe in Höhe von mindestens 121.3 Millionen € zurück oder teilte diese anderen Zwecken zu; und die Vereinigten Staaten von Amerika ordneten eine umfassende Überprüfung ihrer Partnerschaft mit Georgien an, was unter anderem zur Aussetzung einer geplanten gemeinsamen Militärübung sowie Finanzhilfe von mindestens 95 Millionen U.S.$ und der Verhängung von Sanktionen gegen bestimmte georgische Beamte führte.
Auch damals schien es, als ob der Georgische Traum einen Fehltritt gemacht hätte, der Dinge in Bewegung setzte, die der Partei ihr Regierungsmandat kosten würden. Georgischer Traum zeigte sich jedoch grösstenteils ungerührt und stellte die Zehntausenden von Demonstrant*innen, die Tag für Tag und über Wochen auf die Strasse der georgischen Hauptstadt gingen, ähnlich wie jetzt, als eine radikale Minderheit dar, die gegenüber der schweigenden Mehrheit der zu Hause verbleibenden Georgier*innen, die angeblich Georgischer Traum unterstützen sollen, verblassen würde. Nachdem das vom Georgischen Traum dominierte Parlament das kontroverse Gesetz im Eiltempo durch das Parlament boxte, schwächten Proteste ab und verschwanden schliesslich gar vollständig, ohne dass Georgischer Traum irgendwelche Konzessionen machen musste.
Und nicht nur das. Eine Umfrage des Caucasus Research Resource Center, die am Höhepunkt der Proteste im April und Mai 2024 durchgeführt worden war, zeigte, dass die vom Georgischen Traum gestellte Regierung nicht nur keine Unterstützung verloren hatte, sondern dass deren Zuspruchraten gar höher waren, als in vorherigen Jahren. Dies steht im Einklang mit der Tatsache, dass alle anderen verfügbaren Informationen, inklusive mehrere Umfragen von vor und nach den am 26. Oktober 2024 stattgefunden Wahlen, keinen Zweifel lassen, dass der Georgische Traum, obwohl der von der Partei beanspruchte kürzliche Wahlsieg mit einer Mehrheit von 54% stark bestritten wird, die mit Abstand stärkste politische Kraft in Georgien bleibt; sogar gegenüber Georgischer Traum höchst kritische Quellen sind sich einigen, dass die Partei mindestens zwischen um die 30% bis 40% Zuspruchsraten geniesst, was die Werte der zweit- und drittplatzierten Parteien übertrifft, selbst wenn man diese zusammenzählen würde. Zu behaupten, dass dies durch die jüngsten Ereignisse komplett auf den Kopf gestellt wurde, ist aufgrund des Obigen und trotz des Umstands, dass derzeitige Proteste weiterverbreitet und aktiver sind als zuvor, daher nicht nur spekulativ, sondern fraglich.
Dies gesagt ist es ebenfalls wichtig festzuhalten, dass oft geäusserte Anschuldigungen, wonach der Georgische Traum und die von ihm gestellte Regierung pro-russisch sein sollen, mehr als zweifelhaft sind. In der Tat erklären diverse westliche Diplomat*innen sowie andere gutplatzierte Quellen in Georgien in privaten Gesprächen, dass es keinerlei greifbaren Indizien, nicht zu sprechen von Beweisen gäbe, dass der Georgische Traum russisch unterwandert sei oder Russland in Georgien signifikante Subversion betreiben würde. Dies ist von Bedeutungen, da Anekdoten darauf hindeuten, dass fälschliche Anschuldigungen, dass Unterstützter*innen des Georgischen Traumes pro-russisch sein sollen, deren Zuspruch für Georgischen Traum und deren Ablehnung jeglicher Oppositionskräfte eher zu verstärken scheinen.
Daher und da die vom Georgischen Traum gestellte Regierung sich derzeit bemüht, Normalität auszustrahlen, sowie offenbar angeordnet hat, dass teilweise immer noch hart gegen Demonstrierende vorgehende Polizeikräfte sich zumindest im Vergleich zu den ersten Tagen der erneuten Massenproteste mehr zurückhalten, ist es sehr gut möglich, dass der Georgische Traum, genau wie im Frühling 2024, die Massenproteste auszusitzen vermag. Oder dass es der Partei gelingt, die mehrheitlich friedlichen Proteste als gewalttätig zu diskreditieren, da einige Demonstrierende durch das Abschiessen von Feuerwerk gegen Polizist*innen oder das Parlament sowie das Legen von Feuern in den Strassen und in einer Nacht gar innerhalb des Parlamentsgebäudes Polizeireaktionen provozieren.
Dass der Georgische Traum erneut siegreich hervorgehen könnte, ist auch umso mehr möglich, als dass der direkt den Parlamentswahlen folgende Monat gezeigt hat, dass derzeitige Oppositionsparteien restlos unfähig sind, die Vormachtstellung des Georgischen Traumes in Zweifel zu ziehen und sich breite Unterstützung in der Bevölkerung zu verschaffen, und es unklar bleibt, ob und wenn ja was für eine politische Alternative aus der derzeitig neu belebten, jedoch spontanen und führungslosen Protestbewegung hervorgehen könnte.
Angesichts all des Gesagten war die Ankündigung des Georgischen Traumes, in den nächsten Jahren eigenständig und ohne finanzielle Unterstützung der EU auf EU-Mitgliedschaftskriterien hinzuarbeiten und Bemühungen, EU-Mitgliedschaftsverhandlungen zu starten, auf Ende 2028 zu vertagen, unabhängig davon, ob dies ernst gemeint ist oder nicht, allenfalls nicht der massive Fauxpas, wie es auf den ersten Blick den Anschein macht. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls anzumerken, dass der Entscheid der genannten Ankündigung offenbar von Anfang an ein politisches Manöver war, um einer Mitte Dezember 2024 erwarteten EU-Erklärung, die Schwierigkeiten auf Georgiens Weg zur EU erneut klar Georgischer Traum vorwerfen wird, zuvorzukommen.
Potentielle Katalysatoren
Dies gesagt, gibt es einige bedeutende Unterschiede zwischen der derzeitigen Situation und den Massenprotesten im Frühling 2024, wobei einige davon potentiell zu Katalysatoren für eine signifikanten Änderung der Lage werden könnten.
Zum einen ist von Bedeutung, dass die Proteste im Frühling mehrheitlich auf die Hauptstadt Tbilisi beschränkt waren, die jüngsten Geschehnisse jedoch zu Demonstrationen in einer Reihe von Städten und kleinen Siedlungen in ganz Georgien geführt haben. Dies verleiht den derzeit anhaltenden Protesten vielmehr den Charakter eines breiten Volksaufstandes und untergräbt Darstellungen des Georgischen Traumes, die Demonstrierende als eine radikale urbane Schicht porträtieren, die den Bezug zur normalen Bevölkerung verloren habe. Einige Beobachter*innen erklären ebenfalls, dass die derzeit protestierenden Leute entschlossener seien als im Frühling, da Demonstrierende damals, im schliesslich eingetretenen Fall von ergebnislosen Protesten, noch die Hoffnung hatten, in den Wahlen vom 26. Oktober 2024 Wandel herbeizuführen, während nun eine jetzt-oder-nie-Stimmung herrsche.
Wohl entscheidender ist sodann der Umstand, dass die derzeitigen Proteste, im Gegensatz zu den Ereignissen im Frühling, gewisse Unterstützung von Staatsbediensteten erhalten haben. Seit der kontroversen Ankündigung des Georgischen Traumes, Bemühungen für angestrebte EU-Mitgliedschaftsverhandlungen zu verschieben, haben mindestens einige Hunderte Angestellte von diversen staatlichen Institutionen offene Erklärungen unterzeichnet, die Kritik und Besorgnis an der genannten Ankündigung zum Ausdruck bringen. In einigen, wenn bisher auch beschränkten Fällen, haben Staatsbedienstete, namentlich ein stellvertretender Aussenminister, eine Handvoll Botschafter*innen, sowie zumindest ein Angestellter des Verteidigungsministeriums und einer des Innenministeriums, aufgrund der jüngsten Ereignisse ihren Rücktritt erklärt. Falls solche Rücktritte zunehmen oder sich Staatsbedienstete gar aktiv an Protesten beteiligen sollten, könnte dies bedeutend mehr Druck auf den Georgischen Traum ausüben, als Tausende zusätzliche reguläre Demonstrierende. Ob und inwiefern dies passieren wird, bleibt jedoch abzuwarten, zumal solche Rücktritte zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichtes Ausnahmen blieben und die genannten Erklärungen von Staatsangestellten meist vage formuliert waren und nicht in bedeutender Weise weiterverfolgt worden sind.
Ähnliches trifft auf die Ankündigungen von einigen Gewerkschaften, Geschäften, und Geschäftsverbänden zu, die manchmal mehr, manchmal weniger stark Solidarität mit Protestierenden bekunden und die jüngsten Schritte der Regierung kritisiert haben (siehe z.B. hier, hier, hier, hier, und hier) — sprich, während Handlungen solcher Akteure Potential haben könnten, die Situation zum Kippen zu bringen, bleiben sie bisher allgemein und haben keine klaren Resultate erzielt.
Ein anderer möglicher Katalysator ist der Umstand, dass die derzeitige Präsidentin von Georgien, Salome Zourabishvili, angekündigt hat, dass sie, da sie die kürzlich abgehaltenen Parlamentswahlen aufgrund grossangelegter Wahlfälschung als illegitim betrachtet, am 29. Dezember 2024 bevorstehenden Ende ihrer Amtszeit nicht von ihrem Posten zurücktreten werde. Daher und da die neue vom Georgischen Traum gestellte Regierung bereits erklärt hat, dass sie darauf bestehen werde, dass Zourabishvili ihr Amt aufgeben wird, scheint dies auf eine offene Konfrontation zuzulaufen, die für Georgischer Traum nicht einfach zu handhaben sein wird. Während die Zerstreuung von Protesten durch die Polizei mit der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung begründet werden kann, wäre eine erzwungene Entfernung von Zourabishvili aus dem Präsidentenpalast sehr viel schwieriger zu rechtfertigen und würde höchstwahrscheinlich zu noch mehr Kritik an der Regierung sowie der Untergrabung deren behaupteter Legitimität führen. Ein solches Szenario würde jedoch wohl bis zu einem gewissen Grade erfordern, dass Massenproteste bis Ende Dezember 2024 / Anfang Januar 2025, sprich im Zeitpunkt, in dem Georgischer Traum sich allenfalls entscheiden könnte, gewaltsam gegen Zourabishvilis angekündigtem Verbleib im Präsidentenpalast vorzugehen, anhalten oder dann schnell wieder organisiert werden müssten. Und dies ist, zumal Winter-Temperaturen und die kommenden Feiertage die Ausdauer von Protestierenden wohl auf die Probe stellen werden, alles andere als sicher.
In Anbetracht all des Gesagten und abgesehen von signifikanten unvorhersehbaren Eskalationen ist die oft verbreitete Darstellung, dass Georgien sich kurz vor einer erfolgreichen Volksrevolution befindet und Georgischer Traum am Ende ist, daher weit weniger klar als oft suggeriert.
Franz J. Marty