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Geopolitische Implikationen der Parlamentswahlen in Georgien

Oktober 2024

Am 26. Oktober 2024 werden die Bürger*innen der kleinen Kaukasusrepublik Georgien zu den Wahlurnen gehen, um ein neues Parlament zu wählen. Während dies nominell eine reguläre nationale Wahl ist, sehen die meisten Leute inner- und ausserhalb Georgiens, inklusive Institutionen wie der Europäische Rat und Russlands Auslandgeheimdienst, diese Wahl nicht nur als einen entscheidenden Moment für Georgien, sondern messen dieser geopolitische Bedeutung zu. In einigen Aspekten, wie beispielsweise der Frage nach Georgiens Bemühungen, ein Mitglied der Europäischen Union (EU) zu werden, sowie westlichem Engagement in Georgien, ist dies in der Tat der Fall. Betreffend anderer geopolitischer Implikationen, wie Behauptungen von russischer Subversion, sowie dass Georgien ein Brennpunkt im globalen Wettstreit zwischen liberalen Demokratien und autoritären Systemen sei, ist die Sachlage jedoch nicht so klar wie oft dargestellt.


Ein Georgier gibt seine Stimme in einer Probewahl ab, die zur Einführung und zum Testen neuer Wahlsysteme durchgeführt wurde (12. September 2024) (Quelle: Georgische Wahlkommission).

Kleine wahl, grosse aufmerksamkeit

Dass Georgier*innen Ende Oktober 2024 ein neues Parlament wählen werden, ist schon lange klar, da es eine reguläre Wahl am Ende der vierjährigen Amtszeit des derzeitigen georgischen Parlaments ist. Unter gewöhnlichen Umständen würde einer solchen Wahl in einem kleinen Land mit nur etwas über 3.5 Millionen registrierten Wähler*innen, welches es selten in internationale Schlagzeilen schafft, ausserhalb von Georgien wohl kaum Beachtung geschenkt. Umstände sind jedoch nicht gewöhnlich, da georgische sowie ausländische Akteure die Wahl nicht nur als richtungsweisend für Georgien, sondern als von geopolitischer Relevanz ansehen. Dementsprechend hat die bevorstehende georgische Parlamentswahl hochkarätige Aufmerksamkeit auf sich gezogen, was weiter anhält.

Namentlich haben Vertretende von verschiedenen westlichen Ländern sowie der Europäischen Union (EU) in den Wochen und Monaten vor der georgischen Parlamentswahl eine Reihe von Erklärungen abgegeben, die demokratische Rückschritte in Georgien beklagen. Diese Reaktionen wurden explizit oder implizit in einen grösseren geopolitischen Kontext gesetzt, insbesondere Georgiens EU-Kandidatur, den Konflikt zwischen dem Westen und Russland, sowie dem globalen Konkurrieren von liberalen Demokratien und autoritären Systemen im Allgemeinen.[1] 

Alle diese Erklärungen wurden von einer Reihe kontroverser Handlungen der georgischen Regierung ausgelöst, die das in der georgischen Verfassung verankerte Ziel einer euro-atlantischen Integration Georgiens, so praktisch namentlich Georgiens angestrebten EU-Beitritt, in Frage ziehen. Meistens wird als prominentester konkreter Auslöser, die Verabschiedung des georgischen Gesetzes über «Transparenz von ausländischen Einflüssen» erwähnt, welche trotz Massenprotesten in Georgien am 3. Juni 2024 erfolgte. Das umstrittene Gesetz verpflichtet ausländisch finanzierte georgische Organisationen sich als «Organisationen, die die Interessen einer ausländischen Macht verfolgen» zu registrieren, wobei befürchtet wird, dass dies zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft und unabhängigen Medien missbraucht und das Gesetz mit ähnlicher russischer Gesetzgebung verglichen wird. Andere kritisierte Handlungen der georgischen Regierung sind unter anderem aber nicht nur seit Kurzem wiederholte Erklärungen des Georgischen Traumes, der Partei, die Georgien seit 2012 regiert, im Falle eines Wahlsieges praktisch alle georgischen Oppositionsparteien zu verbieten; Rhetorik des Georgischen Traumes über eine angebliche Verschwörung einer ominösen, nicht genau definierten globalen Kriegspartei, die Georgien in einen Krieg gegen Russland ziehen wolle[2]; sowie die Annahme eines Gesetzes über «Familienwerte und den Schutz von Minderjährigen», das sich gegen angebliche LGBTQ-Propaganda richtet. All dies steht gemäss den genannten westlichen Erklärungen in Konflikt mit dem Willen der überwiegenden Mehrheit der georgischen Bevölkerung, die der EU beitreten wolle. Letzteres ist ein Hinweis auf diverse Umfragen, die angeben, dass zwischen 71% und 86% der Georgier*innen sich für einen EU-Beitritt von Georgien aussprechen. Dementsprechend unterstreichen alle genannten Erklärungen die Wichtigkeit der bevorstehenden Wahl und verlangen, dass diese unter Einhaltung höchster internationaler demokratischer Standards abgehalten werden müsse.

Dass solche westlichen Aussagen mehr sind als generelle Erklärungen zum Schutz von Demokratie und Menschenrechten wird durch deren mehr als scharfe Formulierungen klar. Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 17. Oktober 2024 halten beispielsweise fest, dass das derzeitige Vorgehen der georgischen Regierung «im Widerspruch zu den Werten und Grundsätzen steht, auf die sich die Europäische Union gründe». Knapp eine Woche zuvor sprach eine Resolution des Europäischen Parlamentes dramatischer gar von Rückschritten in der Demokratie, die sich mit «atemberaubender Geschwindigkeit» abspielen würden. Dieselbe Resolution ruft auch zu Sanktionen gegen Bidzina Ivanishvili, den Gründer, Ehrenvorsitzenden, und die angebliche éminence grise des Georgischen Traumes auf, wobei als Begründung dessen angebliche «Rolle bei der Verschlechterung des politischen Prozesses in Georgien sowie [dessen] andere Aktivitäten, die der Russischen Föderation zugutekommen» angeführt werden. Der genannte Text fordert die Regierung Georgiens ebenfalls auf, «ihre Aussenpolitik und Strategie gegenüber Russland vollständig an die der EU anzugleichen», wobei explizit erwähnt wird, dass Georgien Sanktionen gegen Russland verhängen solle. Vertretende von europäischen und der U.S.-amerikanischen Regierungen haben mehrfach ähnliche Punkte ausgedrückt und die georgische Regierung beschuldigt, falsche Informationen zu verbreiten (siehe beispielsweise hier und hier), wobei Minister*innen von 13-EU-Mitgliedstaaten in einem offenen Brief an die georgische Bevölkerung gar von «einer unerhörten Propagandakampagne, (…), ausgemachten Lügen und Diffamierung gegen westliche Partner» sprachen.

Dies gesagt hat die bevorstehende georgische Wahl nicht nur im Westen zu bemerkenswerten Reaktionen geführt, sondern auch in Russland, wenn auch in einem diametral anderen Stil. So hat der russische Auslandsnachrichtendienst SVR zwischen Juli und September 2024 beispielsweise drei Pressecommuniqués veröffentlicht (siehe hier, hier, und hier), in denen die Vereinigten Staaten von Amerika angeschuldigt werden, in die georgische Wahl einzugreifen um einen Regimewechsel zu arrangieren. Dies soll gemäss SVR durch eine grossangelegte Desinformationskampagne geschehen, die Russland für alle Probleme Georgiens verantwortlich macht und den legitimen Wunsch des Georgischen Traumes von politischer Unabhängigkeit von Georgien diskreditieren soll, wobei dies offenbar auf westliche Erklärungen wie die obergenannte Bezug nimmt. Falls der Georgische Traum trotz einer solchen Kampagne die Wahl dennoch gewinnen sollte, wirft der SVR den Vereinigten Staaten von Amerika vor, bereits eine Revolution in Georgien geplant zu haben. Letztere solle durch von U.S.-finanzierten Nichtregierungsorganisationen aufgegleiste Massenproteste gestartet werden, nachdem das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die Wahl auf U.S.-Druck als undemokratisch erklären wird. Solche und ähnliche Behauptungen wurden auch von anderen Vertretenden des russischen Staates gemacht.

Die Ansicht, dass die bevorstehende georgische Wahl ein geopolitischer wichtiger Moment ist, ist auch die interne georgische Perspektive. Ein Hauptwahlspruch des regierenden Georgischen Traumes ist «Nein zu Krieg - Wähle Frieden», der von der Partei in einer kontroversen Kampagne genutzt wird, die Bilder der kriegsversehrten Ukraine friedlichen Aufnahmen aus Georgien gegenüber stellt und explizit suggeriert, dass eine Wiederwahl des Georgischen Traumes Frieden und Wohlstand sichert, während eine Stimme für die Opposition zu Krieg mit Russland führen würde. Auf der anderen Seite, stellen politische Kräfte, die gegen den Georgischen Traum sind, die anstehende Wahl als schicksalshafte Wegscheide dar, die Georgien entweder weiterhin zu euro-atlantischen Integration in den Westen führen oder das Land im Falle einer erneuten Regierung durch den Georgischen Traum unter düsteren autoritären Einfluss Russlands fallen lassen wird. Solche geopolitischen Aspekte werden keineswegs nur nebenbei erwähnt, sondern dominieren vielmehr die Wahlkampfkampagnen aller Parteien.

Standbild aus einer Wahlkampfwerbung des Georgischen Traumes, welche eine kriegsversehrte Stadt in der Ukraine und «Nein zu Krieg» einer florierenden Stadt in Georgien und «Wähle Frieden» gegenüberstellt (Quelle: Georgischer Traum

Einfluss auf EU-Expansion und westliches engagement in georgien

Angesichts all des Gesagten, wird die klarste und direkteste geopolitische Konsequenz der kommenden georgischen Parlamentswahl deren Einfluss auf die geplante EU-Expansion sein. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass verschiedene Vertretende der EU mehrmals bestätigt haben, dass Georgiens EU-Beitrittsprozess de facto sistiert worden ist und betont haben, dass dies nur geändert werden kann, wenn die jetzige oder zukünftige georgische Regierung den derzeitigen Kurs ändern wird.

Dementsprechend wäre es, falls der Georgische Traum ein weiteres Regierungsmandat erhalten sollte, praktisch ausgeschlossen, dass Georgien in voraussehbarer Zukunft ein EU-Mitglied werden würde, da die Partei keinerlei Anzeichen macht, ihre derzeitigen Entscheide zu überdenken. Dies gilt trotz anhaltender Versicherungen von Vertretenden der jetzigen georgischen Regierung und des Georgischen Traumes, dass ein Wahlsieg der Partei es schlussendlich ermöglichen würde, Beziehungen mit der EU wieder einzurenken, und dies Georgiens Weg zu einer EU-Mitgliedschaft erneut öffnen würde. Viele Beobachter*innen geben an, dass Regierungsvertretenden des Georgischen Traumes bewusst sei, dass dies Wunschdenken sei, und diese solche Aussagen nur machen würden, um die Öffentlichkeit irrezuführen und um nicht Wähler*innen zu verlieren. Dies ist angesichts fehlender verlässlicher Informationen über Vorgänge innerhalb des Georgischen Traumes jedoch spekulativ, zumal Hinweise darauf bestehen, dass Vertretende des Georgischen Traumes in der Tat, wenn auch höchstwahrscheinlich fälschlicherweise, glauben, dass die EU irgendwann nachgeben und Georgien erlauben wird, den Beitrittsprozess weiterzuführen, selbst wenn die derzeitige georgische Politik nicht geändert wird.[3]

Die Annahme, dass ein solches Szenario durch eine klare Absage von georgischen Wähler*innen an den Georgischen Traum verhindert werden wird, ist bei weitem nicht so klar, wie oft wiederholte Darstellungen, wonach über 80% von Georgier*innen den EU-Beitritt befürworten und Georgischer Traum diesem im Wege steht, suggerieren. Während keine der vorhanden Wahlumfragen verlässlich ist und georgische Wahlen offen für Überraschungen sind, ist der Umstand herausstechend, dass sogar die Wahlumfragen mit dem besten Ergebnis für die Opposition keinen Zweifel offen lassen, dass der Georgische Traum offenbar weiterhin die bei weitem stärkste Partei bleiben wird. Genauer zeigen solche Umfragen, dass die regierende Partei allermindestens einen Drittel der Stimme erhalten würde, während keine andere Partei 20% erreicht und die zweit- und drittplatzierten Parteien selbst zusammengenommen nicht auf den Wähleranteil des Georgischen Traumes kommen würde. Da gewisse dieser Umfragen von oppositionsfreundlichen Institutionen in Auftrag gegeben worden sind, kann ausgeschlossen werden, dass diese für den Georgischen Traum positiv verfälscht worden sind. Dies gesagt hat eine regierungsfreundliche Umfrage mit dem besten Resultat für Georgischer Traum ergeben, dass dieser 59.5% der Stimmen erhalten würde, weshalb es nach wie vor alles andere als überraschend wäre, wenn der Georgische Traum erneut eine Mehrheit gewinnen würde. Potentielle Erklärungen für diesen scheinbaren Widerspruch sind, dass viele Georgier*innen, die in Umfragen angeben, für einen EU-Beitritt zu sein, beim Entscheid, welcher Partei sie ihre Stimme geben, anderen Aspekten allenfalls höheres Gewicht zumessen; dass Wähler*innen mit dem Wahlversprechen des Georgischen Traums einig sind, dass ein EU-Beitritt nur mit «Würde» erfolgen solle, was offenbar meint nur solange Georgien seinen derzeitigen Kurs beibehalten kann; und/oder dass Wähler*innen nicht realisieren, dass letzteres höchst unwahrscheinlich ist.

Graffiti in Georgiens Hauptstadt Tbilisi mit einer Flagge der EU und Georgien und dem Slogan, dass Georgien zu Europa gehöre (Franz J. Marty, 14. Mai 2024)

Aufgrund all des Ausgeführten ist es daher fast sicher, dass der Georgische Traum, selbst wenn Oppositionsparteien eine Mehrheit der Sitze im neuen georgischen Parlament erhalten und eine Koalition bilden können sollten, weiterhin eine Kraft mit signifikantem politischem Einfluss bleiben würde — was bedeutet, dass ein solches Szenario derzeitige Problem in georgischen Beziehungen mit der EU zwar mildern könnte, jedoch nicht zum Verschwinden bringen würde. Dies gilt umso mehr, als dass die georgische Opposition zersplittert ist, weshalb es wahrscheinlich ist, dass jegliche potentielle Regierungskoalition von Oppositionsparteien auf wackligen Füssen stünde und Georgien auch in einem solchen Fall vor einer unsicheren politischen Zukunft stehen würde.[4]

In beiden Fällen, sprich im Falle eines effektiven Endes des georgischen EU-Beitrittsverfahrens oder im Falle einer holprigen Wiederaufnahme desselben, würde dies wohl keinen signifikanten Einfluss auf laufende EU-Beitrittsprozesse anderer Länder, namentlich der Ukraine und Moldawien, haben, da sich diese unabhängig vom georgischen Prozess entwickelt haben. Es könnte jedoch den Enthusiasmus für weitere Expansionen in der EU dämpfen, sei dies im Kaukasus (auch Armenien hat an einem EU-Beitritt Interesse gezeigt und positive EU-Signale erhalten) oder anderswo.

Darüber hinaus würde ein effektives Ende des georgischen EU-Beitrittsprozesses oder anhaltender Probleme an dieser Front fast sicher breitere Konsequenzen auf das Engagement der EU und der Vereinigten Staaten von Amerika in Georgien haben. In der Tat haben die EU und die Vereinigten Staaten von Amerika aufgrund der beklagten Rückschritte betreffend Demokratie in Georgien bereits finanzielle Hilfe an die georgische Regierung sistiert oder angepasst, hochrangige Treffen ausgesetzt und, im Falle der Vereinigten Staaten, Militärübungen abgesagt. Aus einer weiteren geopolitischen Warte würde eine reduzierte Involvierung des Westens in Georgien wohl auch westliche Investitionen und Interesse am Mittelkorridor, einem Transportweg der China via Kasachstan, das Kaspische Meer, Aserbaidschan, Georgien und der Türkei oder das Schwarze Meer mit Europa verbinden soll, negativ beeinflussen.

georgien als russischer satellitenstaat?

Eine andere oft gehörte geopolitische Konsequenz der anstehenden Wahlen sind Behauptungen, dass, im Falle dass Georgischer Traum sich erneut ein Regierungsmandat sichern sollte, Georgien unter klaren russischen Einfluss fallen würde. Nüchtern betrachtet erscheint ein solches Szenario jedoch zweifelhaft.

Eine der Hauptgründe dafür ist, dass jegliche substantielle georgisch-russische Annäherung von einer mindestens teilweisen Lösung von Problemen abhängt, die durch einen 5 Tage andauernden Krieg im August 2008 ausgelöst worden sind. In diesem Krieg standen sich Georgien auf der einen und Russland, Abchasien, und Südossetien auf der anderen Seite gegenüber, wobei jede Seite die jeweils andere für den Kriegsausbruch verantwortlich macht. Dieser Krieg führte dazu, dass Russland (und später eine Handvoll anderer Länder) Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anerkannten, während Georgien und die Grossmehrheit der internationalen Gemeinschaft dies heftig kritisieren und die beiden Regionen weiterhin als integralen Teil Georgiens ansehen.

Dies gesagt haben vage Versprechen des Georgischen Traumes, die territoriale Integrität von Georgien im Falle eines Wahlsieges wiederherzustellen, eine Reihe von Gerüchten an dieser Front ausgelöst. Eines der meist genannten Gerüchte war, dass eine erneute Regierung des Georgischen Traumes Abchasien und Südossetien als unabhängig anerkennen und dann eine Konföderation mit diesen bilden würde — etwas, das ohne Zustimmung und Mithilfe von Moskau kaum denkbar wäre. Dass ein solches Szenario je ernsthaft in Betracht gezogen wurde oder Chancen auf Erfolg hätte, ist jedoch zweifelhaft. In Reaktionen auf Obiges haben Abchasien, Südossetien, und Russland klargemacht, dass sie ihre respektiven Positionen nicht geändert haben und jeglicher Fortschritt von einer Grenzbereinigung und schriftlichen Garantien, dass Georgien keine Gewalt gegen Abchasien und Südossetien ausüben wird, abhängig sei, was für jegliche georgische Regierung ausser Frage steht. Dies ergibt sich auch aus einer Klarstellung des Georgischen Traumes vom 6. Oktober 2024, in der die Partei insistierte, dass weder die Anerkennung von Abchasien oder Südossetien als unabhängige Staaten noch die Bildung einer Konföderation je zur Debatte gestanden seien. Angesichts des Ausgeführten und da andere realistische direkt umsetzbare Lösungsansätze fehlen, erscheint jegliche schnelle Beilegung dieser Probleme — und somit die Annahme einer unmittelbar bevorstehenden geschmeidigen georgisch-russischen Allianz oder Freundschaft — mehr als unwahrscheinlich. Der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, dass es derzeit auch keinerlei Anzeichen gibt, dass die genannten Konflikte wieder gewaltsam ausbrechen könnten.

Im Allgemeinen ist ebenfalls zu bemerken, dass Behauptungen, wonach Georgischer Traum von Russland beeinflusst sein soll, nicht auf greifbaren Indizien oder Beweisen beruhen, sondern spekulativ bleiben. Oftmals scheint die Logik solcher Behauptungen zu sein, dass der Umstand, dass der Anführer des Georgischen Traumes, der Milliardär Ivanishvili, sein Vermögen in Russland gemacht hat und dass Hauptgesprächspunkte des Georgischen Traumes wie die Verteidigung von traditionellen Familienwerten und der orthodoxen Kirche sowie Behauptungen über eine ominöse westliche globale Kriegspartei russischen Ansichten ähneln, ein klares Anzeichen für russische Subversion seien. Dies ignoriert jedoch, dass Ivanishvili und der Georgische Traum genauso gut, wenn nicht wahrscheinlicher ihre ganz eigenen georgischen Motive und Überzeugungen für solche Programmpunkte haben.

Bidzina Ivanishvili, der Gründer, Ehrenvorsitzende und angeblich pro-russische éminence grise des Georgischen Traumes (Quelle: Georgischer Traum)

Demokratie gegen autoritarismus

Unabhängig von einer russischen Komponente werden die bevorstehenden georgischen Wahlen auch regelmässig als ein Brennpunkt im globalen Konkurrieren zwischen liberalen Demokratien und illiberalen autoritären System gesehen.

Aufgrund der genannten wiederholten Versprechen des Georgischen Traumes im Falle eines Wahlsieges praktisch alle Oppositionsparteien zu verbieten, dem Umstand, dass das Gesetz über «Transparenz von ausländischen Einflüssen» sowie andere Regierungshandlungen in der Tat Fragen über bürgerliche Freiheiten aufwerfen, und da die genannte Reihe von Resolutionen und Erklärungen von westlichen Parlamentarier*innen und Regierungsvertretenden die derzeitige durch den Georgischen Traum gestellte Regierung als ein unterdrückendes autoritäres Regime darstellen, scheint es wenig Zweifel zu geben, wer auf der Seite von Demokratie und wer auf der Seite von Tyrannei steht. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass die Situation komplexer ist.

Wie oben ausgeführt geben alle vorhanden Umfragen und Informationen an, dass Georgischer Traum die politische Kraft mit dem deutlich grössten Wähler*innenanteil ist. Dies zu ignorieren oder diesen Umstand mit der Begründung wegzuwischen, dass der Zuspruch für Georgischer Traum nur auf der Irreführung, dem Kaufen, oder dem Einschüchtern von Wähler*innen beruht, wie dies manchmal gemacht wird, ist von einem demokratischen Standpunkt höchst problematisch.

Dies ist insbesondere der Fall, als Georgien trotz mannigfaltiger, in den eingangs genannten westlichen Erklärungen erwähnten Problemen derzeit kein autoritärer Staat mit vorgegaukelten Wahlen ist, sondern eine lebhafte demokratische Plattform bietet. Gemäss einem Zwischenbericht der Wahlbeobachtungsmission des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE in Georgien hat die georgische Wahlkommission 1,185 Kandidat*innen von 27 Parteien zur bevorstehenden Wahl des 150 Sitze zählenden georgischen Parlaments zugelassen, wobei nur einer einzigen Partei — der rechtsaussen und anti-westlichen Konservativen Bewegung — der Zugang zur Wahl unter eigenem Namen verwehrt worden ist.[5] Während der genannte OSZE Zwischenbericht sowie diverse andere Quellen zahlreiche, teilweise schwere die Wahl betreffende Missstände anführen, haben es diese nüchtern betrachtet Kandidat*innen nicht verunmöglicht, effektiv Wahlkampf zu betreiben, und es bestehet ein demokratisches Konkurrieren um Stimmen. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls zu erwähnen, dass Befürchtungen, dass die von Georgischer Traum gestellte Regierung das umstrittene Gesetz über «Transparenz von ausländischen Einflüssen» sofort dazu nutzen wird, Dissens zu unterdrücken, sich zumindest bisher nicht realisiert haben. Seitdem das Gesetz Anfang September 2024 effektiv in Kraft getreten ist, weigern sich die meisten Organisationen, die unter das Gesetz fallen würden, sich als Organisationen, die die Interessen ausländischer Mächte verfolgen, zu registrierten; im Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichtes haben georgische Behörden jedoch noch keine einzige Organisation deshalb mit einer Busse belegt und auch nicht versucht, politische Konkurrent*innen oder kritische Medien mit diesem Gesetz mundtot zu machen.[6]

All dies soll nicht heissen, dass signifikante Beanstandungen von georgischen Akteuren betreffend des demokratischen Klimas in Georgien, die von den eingangs zitierten westlichen Erklärungen wiedergegeben werden, ignoriert oder verharmlost werden sollen. Es soll lediglich aufzeigen, dass die oft kreierte Darstellung, dass Georgischer Traum und die derzeitige georgische Regierung bereits daran sind, die Wahlen in despotischer Weise zu stehlen, da sie im Falle von freien Wahlen eine herbe Niederlage erleiden würde, schlichtweg nicht den Tatsachen entspricht. Eine nüchterne Betrachtung bringt vielmehr zu Tage, dass Georgischer Traum beträchtliche demokratische Wählerunterstützung geniesst und dass dies mindestens so viel mit dem Umstand zu tun hat, dass die georgische Opposition es bisher nicht geschafft hat, eine kritische Anzahl von Wähle*innen für sich zu gewinnen wie mit befürchteten autoritären Beeinflussungen des demokratischen Wahlkampfes durch den Georgischen Traum. Dies zu ignorieren oder herunterzuspielen ist umso problematischer, als es Behauptungen Vorschub leistet, wonach der Westen nicht wirklich an Demokratie interessiert sei, sondern sich unangebracht in fremde Wahlen einmischt oder gar finstere Pläne wie das Anfachen von Krieg oder das Organisieren von als Volksrevolutionen verkleideten Staatsumstürzen verfolgt.

In Anbetracht dieser komplexen Sachlage und aller Ungewissheiten bleibt es extrem schwierig, wenn überhaupt möglich, vorherzusagen, was während und nach den Wahlen in Georgien geschehen wird. Die einzige Sache, die sicher zu sein scheint, ist, dass das Wahlresultat und jegliche politischen Entscheide der neuen georgischen Regierung heiss umstritten sein werden — nicht nur in Georgien, inklusive in zu erwartenden erneuten Massenprotesten, sondern auch in diversen westlichen Hauptstädten sowie in Moskau.

 

Franz J. Marty


[1] Siehe beispielsweise offener Brief an georgische Bevölkerung von Minister*innen von 13 EU-Mitgliedstaaten vom 21. Oktober 2024; Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 17. Oktober 2024; eine Resolution des Europäischen Parlamentes vom 9. Oktober 2024; eine gemeinsame Erklärung  der Aussenminister*innen des Weimarer Dreiecks [Deutschland, Frankreich, Polen] vom 10. Oktober 2024; ein angenommener Antrag des deutschen Bundestages vom 8. Oktober 2024; Erklärungen des U.S. State Departments vom 23. Mai und16. September 2024; oder eine Presseerklärung zur Lancierung des MEGOBARI Act im U.S.-amerikanischen Kongress vom 24. Mai 2024.

[2] Vertretende des Georgischen Traumes haben bisher nicht erläutert, wer genau diese globale Kriegspartei sein soll, sondern nur in vager Weise angegeben, dass es sich dabei nicht um westliche Regierungen oder Beamte handle, sondern um verdeckte Kräfte, die westliche Regierungen indirekt beeinflussen sollen.

[3] Das wohl klarste Beispiel hierfür sind Aussagen des Vorsitzenden des georgischen Parlaments, Shalva Papuashvili, vom 22. April 2024, in welchen er erklärte, dass der vom Georgischen Traum gestellten Regierung in der Vergangenheit gesagt worden sei, dass die Tür zur EU verschlossen bleiben werde, wenn sie den verurteilten und inhaftierten ehemaligen georgischen Präsidenten Mikheil Saakashvili nicht in die Freiheit entlassen würde. Später sei der georgischen Regierung dasselbe für den Fall gedroht worden, dass sie keine Sanktionen gegen Russland verhänge. «Saakashvili ist immer noch im Gefängnis, keine Sanktionen wurden verhängt, und wir haben den [EU] Kandidatenstatus erhalten», schloss Papuashvili in einer Formulierung die klar zeigt, dass der Georgische Traum offenbar glaubt, dass solche und ähnliche von der EU gestellte Bedingungen Bluffs waren und bleiben. Dabei führte Papuashvili ebenfalls an, dass die EU nicht «die Sowjetunion, die Direktiven gibt, die befolgt werden müssen», sondern eine «Union von Gleichen» sei. Papuashvili sagte dies als Reaktion auf Aussagen, wonach die Verabschiedung des Gesetzes über «Transparenz von ausländischen Einflüssen» Georgiens Weg in die EU gefährde.

[4] Fast alle Oppositionsparteien haben die Georgische Charta unterzeichnet, eine von der georgischen Präsidentin lancierte Initiative, welche vorsieht, dass im Falle eines Wahlsieges der Opposition, alle unterzeichnenden Oppositionsparteien eine technokratische Regierung formen würden, die umgehend diverse konkrete Schritte unternehmen würde, um den EU-Beitrittsprozess von Georgien wieder voranzutreiben und danach bereits im Jahre 2025 ausserordentliche Parlamentswahlen ausrufen würde. Da die Erfahrung zeigt, dass Versprechen von georgischen Oppositionsparteien, eine geeinte Front zu bilden, schnell über politisches Geplänkel stolpern (für ein illustratives Beispiel siehe hier), ist es fraglich, ob die Georgische Charta reibungslos umgesetzt werden könnte.

[5] Eine offizielle Verlautbarung der georgischen Wahlkommission erwähnt, dass zwei Parteien nicht zur Wahl zugelassen worden seien. Dies verweist jedoch offenbar auf ein und dieselbe Partei — die Konservative Bewegung. Diese Bewegung hat, nachdem ihre ursprüngliche Registrierung als Partei unter ihrem eigenen Namen mit einer technischen Begründung als ungültig erklärt worden war, versucht, sich unter einer offiziell registrierten schlummernden anderen Partei, Georgische Idee, für die Wahl zu registrieren, was jedoch erneut aufgrund technischer Bestimmungen abgelehnt worden war. Daraufhin hat die Konservative Bewegung mit einer zur Wahl zugelassenen Partei, der Allianz der Patrioten, eine Vereinbarung gefunden, unter der Kandidat*innen der Konservativen Bewegung auf der Parteiliste der Allianz der Patrioten zur Wahl antreten.

[6] In einer seltsam anmutenden Episode hat das georgische Anti-Korruptionsbüro unter Anwendung anderer Bestimmung als dem Gesetz über «Transparenz von ausländischen Einflüssen» am 24. September 2024 zwei Nichtregierungsorganisationen, Transparency International Georgia und Vote for Europe, als Organisationen designiert, die Wahlziele verfolgen, was diesen verunmöglicht hätte, vorgesehene unabhängige Wahlbeobachtungen durchzuführen. Dieser Entscheid wurde am 2. Oktober 2024 jedoch rückgängig gemacht, nachdem der georgische Premierminister Irakli Kobakhidze erklärt hatte, dass die ursprüngliche Entscheidung zwar rechtens, jedoch nicht opportun gewesen sei.

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