Pfarrer Peter Ruch und Dr. Urs Vögeli
Dieser Beitrag basiert auf einem Referat von Peter Ruch, gehalten an der Tagung Zivilgesellschaft vom 15.11.2019 in Thun
Ziel dieses Beitrages ist es, durch interdisziplinäre Ansätze das digitale Zeitalter und neue Technologien kritisch zu reflektieren und damit einen cleveren und strategischen gesellschaftlichen Umgang mit dem Digitalen zu fördern. Ein Konzept aus der Theologie entlehnt, welches die drei Ebenen explicatio, implicatio und applicatio beinhaltet, soll die technologiegläubige Fokussierung auf die App herausfordern und ein alternatives Verständnis von Digitalisierung und damit zusammenhängenden Phänomenen wie Überengagement, Stress, Desinteresse, Manipulierbarkeit im Cyber- und Informationsraum, sowie Virtualisierung des Lebens liefern.
Dass der Vergleich zwischen Gegenwart und Vergangenheit verblüfft, ist nicht neu. Stefan Zweig beschrieb rückblickend das 19. Jahrhundert wie folgt: «Es war eine geordnete Welt ohne Hast. Der Rhythmus der neuen Geschwindigkeiten hatte sich noch nicht ... vom Auto, dem Telephon, dem Radio, dem Flugzeug auf den Menschen übertragen, Zeit und Alter hatten ein anderes Maß. Man lebte gemächlicher, und wenn ich versuche, mir bildhaft die Figuren der Erwachsenen zu erwecken, die um meine Kindheit standen, so fällt mir auf, wie viele unter ihnen frühzeitig korpulent waren. ... Graues Haar war ein Zeichen von Würde, und ein gesetzter Mann vermied bewusst die Gesten ... der Jugend als etwas Ungehöriges.» (S. 42f) Zweig starb 1942. - «Die Welt von gestern» lautet der Titel. Es ist keine nostalgische Schrift, und ich überlasse es Ihrer Phantasie, sich auszumalen, was Zweig angesichts der neuen Technologien schreiben könnte.
App-Gläubigkeit und Tempo
Zu den Schlüsselbegriffen der neuen digitalen Welt gehört die App (vgl. Applikation, die Anwendung). Dass man sie in Sekunden herunterladen kann, lässt vergessen, dass sie eine Vorgeschichte hat. Die Vorgeschichte besteht etwa darin, Kenntnisse zu erarbeiten, Daten zu sammeln, zu verarbeiten und auch die Applikation technisch zu entwickeln. Der Applikation geht somit eine Explikation voraus. In der Theologie nannte Karl Barth die explicatio Beobachtung (I,2 S.857). Dabei geht es um die Quellen, in der christlichen Theologie also um die biblischen Texte, bei denen es oft nicht genügt, dass man sie hört oder liest. Der Kontext ist dabei zentral. Es ist zu klären, welche Bedeutungsfelder die Wörter haben, und in welcher Situation die Texte entstanden sind; allenfalls, welche Autorenschaft sie hat. Das leistet die exegetische Forschung, Altes und Neues Testament.
Explicatio, Fakten und der Kontext
Auch in der Theologie gibt es eine applicatio. Barth nannte sie Aneignung. Es ging ihm um die Frage, was sich ergibt aus dem, was in der Bibel steht. Was hat die Kirche zu sagen und zu tun? Was hat sie zu unterlassen? Es geht also um die Anwendung, um den Alltag, um das Konkrete, das Handeln, die Praxis wie man so schön sagt.
Explicatio und applicatio können also auch auf andere Felder übertragen werden, so auch auf den digitalen Wandel. Es gibt sie überall, wo Daten und Fakten gesammelt, Erkenntnisse erarbeitet und Anwendungen angestrebt werden. Man denke beispielsweise an die Pharmazie, wo chemische Substanzen analysiert, hergestellt und kombiniert werden mit dem Ziel, Krankheiten zu heilen, zu lindern, fernzuhalten oder zu erkennen. Der Weg von der explicatio Richtung applicatio ist oftmals lang. Und manchmal eine Sackgasse ins Nichts.
Interessanterweise gibt es dazwischen noch ein weiteres Element, nämlich die implicatio. Die implicatio ist die Verflechtung. Will ich aus Rohmaterialien etwas Brauchbares machen, muss ich sie verarbeiten. Das geht, schon beim Handwerk, nur mithilfe des Kopfes. Und erst recht bei abstrakteren Arbeitsgängen, sei es im Mikrokosmos der Chemie oder bei der Planung von Grossprojekten. Sei es in den Geisteswissenschaften oder in der Jurisprudenz, wo der Begriff der Hermeneutik so geläufig ist wie in der Theologie. Der Kopf muss mitmachen.
Implicatio und strategisches Denken
Implicatio ist Denken. Durch Denken soll die explicatio verstanden, umgewandelt und der applicatio zugeführt werden. Das Denken fordert uns am stärksten, und es braucht Zeit. Ein Beispiel aus einem Bereich, der nichts mit Forschung und Entwicklung zu tun hat: In seinen Memoiren schildert Churchill seine Reise in die USA nach dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbour. Das Kapitel ist mit «Reise im Kriegsbrand» überschrieben. Wir lesen da: «Die achttägige Reise mit der erzwungenen Herabsetzung der Alltagsgeschäfte ermöglichte es mir, den ganzen Krieg im Lichte seiner plötzlichen ungeheuerlichen Ausweitung vor mir Revue passieren zu lassen. Ich erinnerte mich an Napoleons Ausspruch über den Wert der Fähigkeit, sich in Gedanken mit einem Gegenstand lange zu befassen, ohne zu ermüden - «fixer des objets longtemps sans être fatigué». Wie gewöhnlich versuchte ich dies dadurch zu erreichen, dass ich meine Gedanken diktierte und tippen liess. So verfasste ich drei Exposés über die meiner Ansicht nach einzuschlagende Kriegsstrategie. ... An jedem Exposé arbeitete ich vier bis fünf Stunden, verteilt auf zwei bis drei Tage. Da mir alles klar vor Augen stand, entwickelte ich meine Gedanken im Grunde mühelos, wenn auch langsam. Ich hätte sie in der gleichen Zeit zwei- bis dreimal eigenhändig niederschreiben können.» Obwohl keine Zeit verloren gehen durfte, nahm sich Churchill die Zeit für umfangreiches Nachdenken und Niederschreiben. Wo nehmen wir uns heute noch die Zeit dem Alltag zu entfliehen und uns grundlegenden und strategischen Fragen zu widmen, sind wir doch zu sehr in der application verhaftet? Bei der implicatio geht es eben um Verflechtung. Verweben ist lateinisch texere, Partizip textum. Da sind wir also bei der Sprache. Und hier muss eingefügt werden, dass implicatio nicht nur Verflechtung und Verwebung, sondern auch Verworrenheit heisst. Verwirrung haftet dem Denken zumindest phasenweise an.
Die These lautet also, dass die genannten Schritte explicatio, implicatio und applicatio in sämtlichen Gebieten menschlichen Denkens und Handelns eine Rolle spielen. Selbst bei banalen Verrichtungen, aber auch bei komplexen Themen wie Digitalisierung und neue Technologien.
Das Denken abgewöhnt?
Reden wir über Gesellschaft und Demokratie im digitalen Zeitalter zwischen Überengagement und Desinteresse, zwischen Burnout und Boreout, so weckt das die Frage, ob mit den drei Schritten etwas nicht stimmt. Der Verdacht liegt nahe, dass wir uns zu einseitig auf die application fokussieren. Man könnte sich folgende Fragen stellen: Wer immer alles nachsehen kann, müsse gar nichts mehr wissen? Und wer im Internet für fast jedes Problem eine Lösung finde, müsse nicht mehr denken?
Das Denken ist also bedroht. Als Menschen sind wir zwar zum Denken konstituiert. Aber weil wir griffige Resultate und Definitionen lieben, fallen wir leicht auf Scheinantworten herein Wir sind quasi applikationsgeil. Angesichts der heutigen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen seien wir jedoch mehr denn je auf das zweckfreie Denken angewiesen. Auf die implicatio. Was bringen die tollsten Digitalisierungen, wenn unklar bleibt, was sie für die Menschen bedeuten?
Verklumpung, Gedankenlosigkeit und Manipulierbarkeit
Die Applikationsgier führt sogar zu Verklumpungen. Verklumpungen sind verbreitete Meinungen, darunter Irrtümer. Sie behindern das freie Denken auf allen möglichen Gebieten. Das Verklumpungsrisiko wurde nicht durch die neuen Technologien geschaffen. Aber es wird durch sie angetrieben. Das Denken könnte zwischen der Datenflut und der Aneignung zerrieben werden. Hier verbirgt sich eine Bedrohung: Hannah Arendt identifiziert am Beispiel von Eichmann nicht den bösen Willen des Täters, sondern seine Gedankenlosigkeit als Zentrum der Banalität des Bösen. Gedankenlosigkeit meint weder ohne Gedanken sein, noch meint es dumm sein. Sondern es meint, dass der Täter seine Fähigkeit zu denken abgestellt und neutralisiert hat. Die neuen Technologien drohen den Denkraum zu schmälern und dadurch die Manipulierbarkeit der Menschen und von Gesellschaften zu erweitern.
Virtualisierung des Lebens
Damit zusammenhängend gibt es auch noch andere Risiken, die ebenfalls nicht leicht wiegen, aber vom erwähnten zu unterscheiden sind. Hirnforscher weisen darauf hin und belegen es mit Studien, dass die Benützung mancher moderner Geräte in der Kindheit und Jugend die Gehirnentwicklung beeinträchtigt. Zudem zeigt die PISA-Studie: Je mehr die Schule in digitale Infrastruktur investiert, desto eher haben sich die Leistungen der Schüler verschlechtert. Finnland ist aus diesem Grund im Ranking abgerutscht. Ein eingeschaltetes Smartphone auf dem Pult reduziert das Denkvermögen, auch wenn es nicht benützt wird. Ein grosser Teil der Menschheit verbringt einen Viertel oder ein Drittel der Wachzeit mit einem kleinen Gerät, das es erst seit gut zehn Jahren gibt. Das kann schwerlich ohne Folgen sein. Weitere Studien haben gezeigt, dass von einem Smartphone-Verbot in der Schule die schwächsten Schüler am meisten profitieren. Medien sind dem Namen nach das Vermittelnde, also das Gegenteil von Unmittelbarkeit. Und damit quasi das Gegenteil echten Lebens, also Virtualität. (Manfred Spitzer, Smartphone-Epidemie S. 17, 19, 23, 33, 35, 38, 41, 43, 53)
Somit kommen wir beim Fazit auf damit zusammenhängende gesellschaftliche Tendenzen. Im Desinteresse schlummert das Überengagement, und in der Teilnahmslosigkeit schlummert die Aggression. Damit Ausbrüche unterbleiben, muss das Denken zwischen Fakten und Handlungen seinen Platz bekommen. Denken scheint passiv zu sein. Wer im Denken tiefer schürft, wird nicht so leicht mitgerissen wie mit einer Applikation. Unsere Kultur ist mit Applikationen reich gesegnet. Sie benötigt jedoch dringend mehr Hinwendung zur Implikation, zum Kombinieren, zum Denken. Verworrenheit gehört ebenfalls dazu, der Umgang mit der Mehrdeutigkeit. Deshalb ist auch Vertrauen so wichtig. «Der Denkprozess selbst ist mit allen anderen Tätigkeiten unvereinbar. Das sollte nicht vergessen werden. ... Wenn immer wir denken, halten wir das an, was wir gerade getan haben mögen», so Hanna Arendt. Denken ist also eine Art Sabbatical im Alltag. Auch eine geistige Entdeckungsreise, die den Dank wecken kann. Und Danken hängt ja direkt mit Denken zusammen.
explicatio
Erklären
Beobachtung
Beschreibung
Entfaltung
Entwirrung
Fakten
Quelle
Kontext
Bedeutung
implicatio
Ableitung
Denken
Reflexion
Verstehen
Kombinieren
Vernetzen
Verflechten
Verwirren
Innehalten
applicatio
Anwendung
Aneignung
Anschliessen
Lösung
Konkretisierung
Handlung
Praxis
Alltag
Tempo