· 

Exklusives Interview mit Taliban-Armeechef zum Status und Mission der Taliban-Armee

KABUL, AFGHANISTAN

Am 12. Januar 2023, traf das Swiss Institute for Global Affairs (SIGA) Qari Fasihuddin Fetrat, den Armeechef des Islamischen Emirates von Afghanistan, besser bekannt als Taliban, und sprach mit ihm über den Status der Taliban-Armee. Dies war das erste extensive Interview des Armeechefs der islamistischen Gruppe, worin dieser exklusive Einblicke in die Taliban-Armee gibt.

Taliban-Armeechef Qari Fasihuddin Fetrat an einer offiziellen Militärzeremonie in Mazar-i Sharif, Afghanistan, März 2022 (Quelle: Taliban Verteidigungsministerium https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=u8KRJL3-zu8)

Im Interview erklärte Qari Fasihuddin, (1) dass die Taliban-Armee derzeit 150’000 Mann zählt und weiter expandieren wird; (2) dass der Einschluss von Soldaten der desintegrierten Armee der im August 2021 gestürzten afghanischen Republik in die neue Taliban-Armee keine Probleme verursacht habe; (3) dass diese Soldaten sowie alle anderen Rekruten in der Taliban-Armee Lektionen in «dschihadistischer Ideologie» erhalten; (4) dass die Taliban-Armee den anti-Taliban Widerstand und den afghanischen Ableger des selbsternannten Islamischen Staates als kleine Gruppen ohne Territorium und daher nicht als eine relevante Bedrohung ansehen; und (5) dass der Hauptfokus der Taliban-Armee darin liege, Afghanistan zu verteidigen, sofern jemand versuchen sollte, dass Land von aussen anzugreifen.

Das Interview wurde in Persisch in der afghanischen Hauptstadt Kabul durchgeführt. Untenstehendes Transkript ist eine Übersetzung des Autors, die zwecks Klarheit und Kürze leicht redigiert wurde.

SIGA: Was ist der derzeitige Status der Armee des Islamischen Emirates von Afghanistan?

Taliban-Armeechef: Der Zustand unserer Armee ist, Dank sei Allah, gut. Alle Mudschahedin [heilige Krieger, gemeint Taliban], die die Vereinigten Staaten von Amerika [in Afghanistan] bekämpft haben, wurden zu Soldaten in der Armee. Und Tag für Tag wächst die Anzahl unserer Soldaten.

Wie gross ist die Taliban-Armee derzeit?

Derzeit zählt unsere Armee 150’000 Mann.

Im Januar 2022 haben Sie öffentlich gesagt, dass das Endziel eine 150’000 Mann starke Armee sei. Bedeutet dies, dass der Wiederaufbau der Armee nach dem Umsturz der ehemaligen afghanischen Republik durch die Taliban im August 2021 nun komplett ist oder wird die Stärke der Taliban-Armee weiter zu nehmen, wie Sie es eben angedeutet haben?

Wir haben Pläne, die Armee weiter auszubauen, vielleicht bis zu 200’000 Mann. Dies hängte von den Bedürfnissen ab. Der Wiederaufbau der Armee ist noch nicht komplett. [Bemerkung: eine 200’000 Mann starke Armee würde ungefähr der Grösse der ehemaligen republikanischen Armee Anfang 2021 entsprechen, die damals den Taliban-Aufstand in ganz Afghanistan bekämpfte.]

Wann erwarten Sie den Abschluss des Wiederaufbaus der Armee?

In sechs bis zwölf Monaten.

Die Taliban-Armee hat derzeit sieben regionale Corps und eine Division, die für die Hauptstadt Kabul zuständig ist, genau wie es in der umgestürzten republikanischen Armee war. Wird dies so bleiben oder sind zusätzliche Einheiten geplant?

Dies wird so bleiben und es sind keine zusätzlichen Corps geplant.

Die republikanische Armee hatte ein separates Corps für Spezialoperationskräfte. Ist dies auch der Fall in der Taliban-Armee?

Es gibt eine separate Einheit für Spezialoperationskräfte, aber deren Aufbau ist derzeit noch im Gange. Diese Einheit hat noch nicht Corps-Stärke erreicht. Derzeit hat die Einheit die Grösse einer Brigade.

Während des Umsturzes der afghanischen Republik ist die republikanische Armee komplett desintegriert. Sie mussten praktisch von Null mit dem Wiederaufbau einer neuen Armee beginnen. Was waren dabei die grössten Schwierigkeiten?

Wenn man von Null anfangen muss, hat man es natürlich nicht einfach. Wir schafften es jedoch, schnell eine neue Armee aufzubauen. Zu Beginn war eine der Schwierigkeiten, dass Mudschahedin, die von abgelegenen Regionen kamen, mit den [zum Aufbau einer Armee notwendigen] Dinge nicht vertraut waren.

Hat die Taliban-Armee derzeit Versorgungsschwierigkeiten, namentlich Schwierigkeiten mit dem Nachschub von Waffen, Munition, oder Fahrzeugen?

Nein. Danke sei Allah, wir haben keine Engpässe.

Haben Soldaten der desintegrierten republikanischen Armee sich der neuen Taliban-Armee angeschlossen? Wenn ja, wie viele?

Ja, Soldaten der ehemaligen Armee haben sich unserer neuen Armee angeschlossen. Solche Soldaten machen ungefähr 25% bis 30% unserer Armee aus. Weitere ungefähr 20% unserer Soldaten wurden neu rekrutiert. Das heisst, dass diese Männer zuvor weder in den alten Sicherheitskräften noch bei den Mudschahedin waren. Die verbleibenden 50% bis 55% sind Taliban-Veteranen, die die Invasoren bekämpft haben.

Gibt es Probleme mit den Soldaten der ehemaligen republikanischen Armee? Diese haben, teilweise über Jahre, für die Regierung gekämpft, welche Sie umgestürzt haben.

Nein, es gibt keine Probleme mit den Soldaten der ehemaligen Armee. Diese haben sich entschieden, ihrem Land zu dienen und es gibt keine Schwierigkeiten. Als die [amerikanische] Besatzung endete, verschwanden alle Probleme zwischen Afghanen und wir dienen nun zusammen wie Brüder.

In einer Ansprache im März 2022 haben Sie gesagt, dass eine der notwendigsten Qualitäten eines Soldaten des Islamischen Emirats eine «dschihadistische Einstellung» sei. Fehlt Soldaten der früheren republikanischen Armee nicht eine solche «dschihadistische Einstellung»?

Bemühungen zur Stärkung der dschihadistischen Ideologie unserer Soldaten halten an. Wir unterrichten alle Soldaten, inklusive der Soldaten der ehemaligen Armee, in dschihadistischer Ideologie. Dieses Training ist konstant und passiert simultan in allen Trainings, die wir unseren Soldaten geben.

Was ist der Status der Taliban-Luftwaffe?

Wir haben die Mehrheit der Flugzeuge der ehemaligen Luftwaffe, die die Amerikaner vor ihrem Abzug [aus Afghanistan Ende August 2021] beschädigt haben, repariert. Unsere Luftwaffe ist derzeit zu 50% wiederaufgebaut und aktiv. Bemühungen, die Luftwaffe weiter aufzubauen, sind im Gange.

Die offiziell angekündigten Reparaturen von Flugzeugen betrafen praktisch ausschliesslich alte sowjetische Flugzeuge und Helikopter, namentlich Mi-17 und Mi-35 Helikopter sowie einige Antonov 32 Transport-Flugzeuge. Die Antonov hatten seit 10 bis 15 Jahren keinen Flug mehr absolviert. Zur gleichen Zeit sind neuere Flugzeuge wie die Super Tucano (Embraer EMB 314 / A-29), leichte Kampfflugzeuge, von denen Sie mindestens zwei haben, nicht mehr geflogen. Was ist der Grund dafür?

Afghanen kennen sich mit sowjetischen Flugzeugen aus und können diese reparieren. Die Super Tucanos sind einsatzfähig, aber es stimmt, dass diese bisher nicht geflogen sind.

Ist das Alter einiger reparierten sowjetischer Flugzeuge / Helikopter nicht ein Problem?

Nein, diese funktionieren gut.

Die Taliban hatten das Ziel, zu beenden, was sie als amerikanische Besatzung Afghanistans angesehen haben, und ein islamisches System in Afghanistan zu errichten. Sie haben diese Ziele erreicht. Was ist jetzt die Mission der Taliban-Armee?

Unsere Mission ist es, Afghanistan sowie das islamische System, das wir endlich errichtet haben, zu verteidigen. Wir stellen auch sicher, dass niemand je wieder in Afghanistan einfallen wird. Die alte republikanische Armee wurde gebildet, um gegen das [afghanische] Volk zu kämpfen. Die Armee des Islamischen Emirates ist anders. Unsere Armee kämpft nicht gegen unseren eigenes Volk in Afghanistan.

Wer ist jetzt Ihr Feind? Der [anti-Taliban] Widerstand? Der selbsternannte Islamische Staat bekannt als Daesh? Oder ein äusserer Feind?

Der Widerstand und Daesh halten keinerlei Gebiet in Afghanistan. Wir sehen diese nicht als Rivalen; diese Gruppen sind keine ernstzunehmende Bedrohung.

Der Widerstand hält aber einige Gebiete in den Bergen der Provinz Panjshir und in Andarab [einem Gebiet in der Provinz Baghlan]. Und Taliban Einheiten haben sich Kämpfe mit diesen geliefert. Im August 2022 hat der Taliban Emir Abdul Qayoum Zakir zum Hauptverantwortlichen für Militäroperationen in Andarab und Panjshir ernannt. Dient Zakir in dieser Funktion als Teil des Taliban Verteidigungsministeriums oder ist seine Rolle unabhängig vom Ministerium?

Abdul Qayoum Zakir dient in dieser Rolle als Teil der Taliban-Armee und des Verteidigungsministeriums. In der Hierarchie der Armee ist er in einer Position unter mir in der Befehlskette. Er ist der Mann, der für Operationen in Andarab und Panjshir zuständig ist, aber wir arbeiten dabei eng zusammen und ich bin täglich in diesbezügliche Entscheidungen involviert. Ja, der Widerstand hat einige bewaffnete Männer in den Bergen, aber diese sind sehr wenige, vielleicht nur 100 bis 150. [Bemerkung: die Nationale Widerstandsfront behauptet, einige Tausend bewaffnete Männer zu haben.] 

Sicherheitskräfte des Taliban-Emirats führen regelmässig Operationen gegen Daesh durch. Bis zu welchem Grade ist die Taliban-Armee in solchen Operationen involviert?

Die Operationen gegen Daesh sind hauptsächlich im Verantwortungsbereich des General-Direktorats für Aufklärung/Nachrichten [Taliban Geheimpolizei] und des Innenministeriums [verantwortlich für Polizeikräfte]. Das Verteidigungsministerium unterstützt diese Behörden in Operationen gegen Daesh, aber das ist eher selten notwendig.

Die Taliban haben bereits vor ihrer Rückkehr an die Macht Daesh bekämpft. Namentlich haben die Taliban Ende 2019 und Anfang 2020 Daesh aus den einzigen Gebieten, die die Gruppe in den ostafghanischen Provinzen Nangarhar und Kunar kontrolliert hatte, vertrieben. Damals haben die Taliban Spezialeinheiten, sogenannte Rote Einheiten, gegen Daesh eingesetzt. Sind diese Roten Einheiten nun Teil des Verteidigungsministeriums geworden und wenn ja, sind diese nicht mehr im Kampf gegen Daesh involviert?

Einige der Roten Einheiten wurden in die neue Armee absorbiert und andere bekamen Polizeikräfte. Die Roten Einheiten, die nun in der Armee sind, spielen keine bedeutende Rolle mehr im Kampf gegen Daesh.

Seit die Taliban im August 2021 an die Macht zurückgekehrt sind, kam es zu verschiedenen kleineren grenzüberschreitenden Feuergefechten mit Sicherheitskräften von Nachbarstaaten, namentlich Pakistan, Iran, und Turkmenistan. Waren die Taliban-Kämpfer, die in diesen Gefechten involviert waren, von der Armee oder der Polizei?

Sie waren von der Armee. Die Verteidigung der Grenze ist eine unserer Aufträge.

Was wird unternommen, um weitere solche Zwischenfälle zu verhindern?

Wir haben ein Komitee ins Leben gerufen, dass in direktem Kontakt mit [Verantwortlichen der Streitkräften von] Nachbarländern steht. Die Arbeit diese Komitees hat begonnen und die Probleme wurden mehr oder weniger gelöst. Wir bemühen uns, die Situation an den Grenzen zu kontrollieren und sicherzustellen, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen. Die Vorfälle wurden teilweise durch Dinge ausgelöst, der die frühere [afghanische] Regierung keine Beachtung geschenkt hat. Es gibt daher manchmal Missverständnisse, die zu diesen Vorfällen führten. Aber das Komitee ist etabliert und Gespräche sind im Gange.

Das heisst, dass Sie, wenn es wieder zu grenzüberschreitenden Zwischenfällen kommen sollte, direkt und sofort mit Verantwortlichen in Nachbarstaaten in Kontakt treten können?

Ja. Das Komitee kann das. Ich mache das nicht persönlich, sondern andere Leute im Verteidigungsministerium.

Was waren die Auslöser für dieser grenzüberschreitenden Feuergefechte? War es der Fehler von Pakistan oder Iran oder der des Emirates?

Es ist natürlich, dass wenn sich zwei Leute gegenüberstehen [und es zu Zwischenfällen kommt], es einmal der Fehler des einen und einmal der Fehler des anderen ist.

Ende Dezember 2022 hat der pakistanische Innenminister in einem Fernsehinterview gesagt, dass die Tehrik-e Taliban Pakistan (TTP) Pakistan von Afghanistan aus bedroht. Er hat ebenfalls gesagt, dass, wenn die afghanischen Taliban die Aktivitäten der TTP innerhalb von Afghanistan nicht unterbinden würden, Pakistan TTP-Ziele innerhalb Afghanistans angreifen würde. Was ist Ihre Reaktion dazu?

Wir versprechen und versichern, dass kein anderes Land von afghanischem Boden aus angegriffen werden wird. Wir erlauben es auch niemandem, von Afghanistan aus Aktivitäten zu unternehmen, die einem anderen Land schaden könnten, ob das die TTP oder eine andere Bewegung ist. Wir erlauben niemandem dies zu tun. Genauso wie wir niemandem erlauben, Attacken aus Afghanistan zu starten, erlauben wir es auch niemand von ausserhalb Afghanistans unser Land anzugreifen. Wir werden solche Drohungen niemals akzeptieren.

Im April 2022 haben pakistanische Kampfjets mehrere Häuser innerhalb Afghanistans bombardiert. Wenn die pakistanische Luftwaffe erneut solche Luftschläge durchführen würde, wie könnten Sie sich verteidigen?

Wir haben die Ausrüstung, um uns zu verteidigen. Wir sind in der Lage uns zu verteidigen.

Aber die Taliban-Armee hat keine signifikante Luftabwehr. Sie haben einige Siko Yak [afghanischer Begriff für ZPU, ein russische Luftabwehr-Maschinengewehr, das auf dem KPV schweren Maschinengewehr basiert]; es gibt vielleicht noch einige Stinger [Man-Portable Air-Defence Systems] [aus der Zeit des anti-sowjetischen Dschihad in den 1980ern], aber diese sind so alt, dass sie kaum mehr funktionstüchtig sind. Die frühere republikanische Armee wurde auch nie mit signifikanter Luftabwehr ausgerüstet, da dies nicht nötig war, weil die Taliban keine Flugzeuge hatten.

Wir haben [Luftabwehr], inshallah. Wir haben alles. Wir können Flugzeuge abschiessen. Natürlich können wir das. Wir müssen das können. Es gibt ein berühmtes Sprichwort in Persisch [einer der Landessprachen von Afghanistan]: «جوینده یابنده است» («juyenda yobanda ast»; «der Suchende findet»). Das Islamische Emirat hat sich bemüht, die Amerikaner zu besiegen, und wir haben sie vertrieben. Dementsprechend werden wir auch jetzt finden, was wir brauchen und erfolgreich sein.

Danke für das Interview.

Franz J. Marty


SIGA im Gespräch mit Franz J. Marty über das Interview und die Situation in Afghanistan



Kommentar schreiben

Kommentare: 0