Der Krieg in der Ukraine kostet tausende Leben und traumatisiert Menschen. Aus geostrategischer Sicht ist dieser Krieg aber ein Lackmustest (Prüfstein) für langfristige tektonische Machtverschiebungen in Richtung Asien. Das Swiss Institute for Global Affairs (SIGA) kommentiert die aktuellen militärischen Entwicklungen in der Ukraine, Francis Fukuyamas Thesen in der NZZ und das Fallbeispiel China.
Replik auf Francis FukUyamas Thesen in der Neuen Zürcher Zeitung vom 16.03.2022
Fukuyama geht davon aus, dass Russland den Krieg verlieren und es eine «Wiedergeburt der Freiheit» geben wird.
- Leider fallen die aktuellen Kriegsverläufe auf verschiedenen Ebenen wenig positiv aus. Selbst auf der operativen Stufe sprechen die russischen Vorstösse im Süden eine strategisch andere Sprache. Dort werden die Weichen gestellt, was die Kontrolle über Handelswege, Ressourcen und Schwerindustrie betrifft – bei einem Waffenstillstand werden diese Assets Teil der russischen Verhandlungsmasse sein. Die physischen und normativen Grenzverschiebungen haben bereits stattgefunden (vgl. Donbass und Enttabuisierung des Krieges).
- Die Populisten in aller Welt und ihre Nähe zu Putin hätten Schaden genommen, so Fukuyama. Bedauerlicherweise sprechen die diplomatischen und narrativen Entwicklungen auch hier eine andere Sprache. Wahrscheinlich blendet uns eine zu westzentristische Sicht. Die Spillover-Effekte scheinen eher autoritäre Allianzen strategisch zu stärken.
- Eine «Wiedergeburt der Freiheit» wird es nach dem Krieg kaum geben. Die westlichen Demokratien haben ihre politischen und wirtschaftlichen Systeme in ein Netz von globalen Handelsplätzen und Lieferketten gelegt. Dies schafft Abhängigkeiten, die es fast nicht erlauben, strategische Autonomien aufzubauen. Es wird vermutlich vielmehr eine «Freiheit in Fesseln» sein, die erst mit einer holistischen, strategischen und cleveren Narrativität, Kollaborativität und Faktizität langsam aufgebrochen werden könnte. Dazu erscheint demnächst ein Strategie-Buch von SIGA.
Das (Fall)Beispiel China:
China nutzt diesen Krieg als weltpolitischen Lackmustest. Dabei geht es Peking gleichzeitig darum, sich in eine geopolitisch favorable Position zu hieven und die tektonischen Verschiebungen richtig zu lesen, um damit langfristig und narrativ weiterarbeiten zu können.
- Im Netz der Globalisierung ist auch Xi Jinping und seine Administration gefangen. China ist wirtschaftlich viel stärker in Handelsbeziehungen mit den USA (123 Milliarden US-Dollars/Feb 22) und Europa (137 Milliarden US-Dollars/Feb 22) eingebunden als mit Russland (26 Milliarden US-Dollars/Feb 22). Dieser ökonomische Druck spielt Xi gekonnt gegen die langfristigen politischen Opportunitäten und Sicherheitsarchitekturen aus (vgl. neue sicherheitspolitische Allianzen und Handelspartner, Opportunitäten für die Belt-and-Road-Initiative, Taiwan-Frage, etc.). Dies erklärt die offiziell neutrale Position Chinas.
- Mittelfristig wird China die wirtschaftlichen Abhängigkeiten so umbauen und umdeuten, dass Peking zunehmend die globalen Wirtschaftsflüsse mit ihren Standards mitbestimmen wird. Die Abwertung des Dollars und die Aufwertung des Renminbi ist im vollen Gange, aber auch digitale Infrastrukturen und Standards werden zunehmend nach chinesischen Mustern geprägt.
- Der Konflikt in der Ukraine ist der Lackmustest für die weltpolitische (Re)Orientierung mit Asien im Zentrum. Die entscheidenden Weichenstellungen werden im Indopazifik gestellt. Es ist interessant, dass sich nur wenige südostasiatische Länder sich bisher zum Konflikt in Europa geäussert haben. Mit dem Fokus auf Europa, vernachlässigen die USA ihre «Pivot to Asia»-Strategie. Damit gewinnt China Zeit und schafft en passant diplomatische Fakten. Indem die Biden Administration auf Xi Jinping als Vermittler setzt, eröffnet dieser diplomatische Akt anderen Ländern – vornehmlich im «Globalen Süden» – die Option faktisch ebenfalls auf die China-Karte zu setzen.
Aktualisiertes Kartenmaterial
Geopolitische Spillover-Effekte:
Militärstrategische Lage und russische Entwicklungsmöglichkeiten in der Ukraine:
1 |
Vorstoss nach oder Zusammenschluss mit Transnistrien. Transnistrien ist ein nicht-anerkannter Staat, der durch Russland unterstützt wird und auch militärische russische Präsenz vorweist. |
Mittel-Gering |
2 |
Das Kernkraftwerk Ukraine-Süd schien ein primäres Ziel rasch vorrückender Truppen zu sein. Zusammen mit der Einnahme des KKW Zaporizhzhya zeichnet sich ein Fokus auf Energieinfrastrukturen ab (Energiegeopolitik) |
Mittel |
3 |
In einem späteren Verlauf könnten die rohstoffreichen Gebiete zwischen dem Dnipro ein strategisches Ziel Russlands sein (Titan, Mangan, Uran, inkl. Schwerindustrie, etc.). Vorstoss von allen Seiten möglich. |
Mittel |
4 |
Die Stadt Zaporizhzhya ist gemäss unterschiedlichen Einschätzungen ein nächstes mögliches Ziel der russischen Vorstösse. Dort befindet sich u.a. das grösste Wasserkraftwerk der Ukraine (siehe Punkt 2). |
Hoch |
5 |
Zusammenschluss bei und Einnahme der gesamten Donbass-Region. Diese entspräche einem ursprünglich kommunizierten Ziel des Einmarsches. |
Sehr hoch |
6 |
Kiev als Hauptstadt und Symbol des ukrainischen Widerstandes dürfte weiter ein primäres Ziel des russischen Einmarsches sein. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass eine komplette langfristige Besetzung der Stadt nicht ein Hauptziel darstellt. |
Sehr hoch |
7 |
Weniger wahrscheinlich wäre ein Vorrücken zu den zwei restlichen KKW im Westen der Ukraine. |
Gering |
8 |
Ein weiteres Vorrücken nach Odessa wird erwartet. Damit würde die Ukraine komplett vom Schwarzen Meer abgeschnitten. Damit würden wesentliche Handelsinfrastrukturen in russischer Hand sein. |
Hoch |
9 |
Die frühe Einnahme der Schlangeninsel ist insofern strategisch interessant, da sich die Insel nur 12 Seemeilen vor der rumänischen Küste befindet, womit die russische Grenze symbolisch wesentlich nach Westen rückt. |
- |
I |
Abschneiden der Ukraine vom Westen. (Fluchtrouten, Waffenlieferungen aus dem Westen) Bindung ukrainischer Kräfte, die dann andernorts fehlen. |
Mittel |
II |
Reich an fossilen Rohstoffen. |
Mittel-Gering |