Europa hat den Krieg bereits verloren

Der Fog of War – d.h. die schiere Unmöglichkeit, die aktuelle militärische Lage genau zu deuten, aber auch der omnipräsente Informationskrieg – schafft Fakten. Es zeichnet sich ab, dass der Angriffskrieg Russlands strategisch und geopolitisch einer westlichen Niederlage näherkommt. Eine Einordung des Swiss Institute for Global Affairs (SIGA):

  1. Kartenvisualisierungen: Zwei aktuelle SIGA-Karten zeigen, wie die möglichen strategischen Ziele Russlands in der Ukraine aussehen und welche geopolitischen Spillover-Effekte eintreten könnten. Für Europa könnten sich weitreichende Destabilisierungen ergeben.
  2. Resilienz der russischen Wirtschaft: Die europäischen Sanktionen treffen die russische Wirtschaft nur bedingt. Schon früh hat die russische Zentralbank Bank Rossii ihre ausländischen Geldreserven aus dem Westen abgezogen. Andere internationale Bezahlsysteme als SWIFT hat Russland mit dem eigenen System for Transfer of Financial Messages (SPFS) oder mit dem chinesischen Cross-Border Inter-Bank Payments System (CIPS). Diese sind aktuell noch teuer und nicht wirklich international erschlossen, können sich aber mittelfristig zu einer SWIFT-Alternative entwickeln. Es gibt Anzeichen, dass Moskau – um die lokalen Arbeitsplätze zu garantieren – westliche Unternehmen verstaatlichen will. Chinesische Unternehmen zeigen Interesse diese zu kaufen. Andere Länder werden vermutlich diese Opportunitäten ebenfalls nutzen. Europa könnte durch diese Situation geschwächt werden und die aktuelle Einigkeit droht zu bröckeln. Empörung und Emotionalität werden sich in den westlichen Gesellschaften womöglich bald legen und durch andere politische und gesellschaftliche Konfliktlinien überdeckt werden.
  3. Energieproblematik: Europa hat kurzfristig keine Alternativen zu Russlands Gas und Öl. Raffinerien aus Europa sind technisch auf die Ölimporte Russlands ausgerichtet. Mittelfristig sind Venezuela, Saudi-Arabien und Iran mögliche Optionen. Diese Länder haben einiges gemeinsam mit Putins Agenda (vgl. autoritäre und antidemokratische Regimes und ideologisch-kulturelle Missgunst gegenüber dem Westen). Zudem hat die OPEC+ aktuell kein Interesse die Produktion anzukurbeln. Die Preise werden hoch bleiben und als mögliches geoökonomisches Druckmittel für die Exportnationen zur Verfügung stehen. Dadurch wird Europa Spielball neuer Interessen und Akteure (vgl. Energiegeopolitik). Die 500 Millionen Euro an Waffen für die Ukraine, welche die EU in Versailles gesprochen haben, stehen im starken Kontrast zu den knapp 250 Millionen Euro, welche Europa für Rohöl, Petrol und Diesel an Russland täglich bezahlt. Dies birgt weiteres Konfliktpotenzial.
  4. Neue geopolitische Allianzen: Mit zunehmender Härte Russlands zeichnen sich neue Allianzen ab. Entsprechende Spillover-Effekte sind die Folge. Es ist augenfällig, dass u.a. Südasien (Bangladesch, Indien und Pakistan) Russlands Position diplomatisch nicht eindeutig verwirft. Die Russia-India-China (RIC) Allianz könnte mit Pakistan eine Ergänzung erfahren und zu einem unheiligen strategischen Bündnis werden, welches über 1/3 der Weltbevölkerung repräsentiert. Auch die Shanghai Cooperation Organization (SCO) sowie die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südamerika) arbeiten u.a. strategisch an einer Entwertung der US-Dollar-Leitwährung. Dies bietet Ländern im «Globalen Süden» neue Optionen mit entsprechenden Abhängigkeiten. Auch Lateinamerika wird sich in dieser machtpolitischen Transformation neu positionieren und wird dabei von Russland und China umworben. Zudem kommt es zu neuen Bündnissen im Nahen und Mittleren Osten. Die Türkei schafft zeitgleich neue Allianzen mit Ägypten und Israel. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) scheinen sich mit Putin zu arrangieren, dies vor allem, weil die USA die Beziehungen zu ihrem Erzfeind Iran rasch entdramatisieren wollen. Diese hängen aber stark von den aktuellen Wiener Atomgesprächen ab.

Diese geostrategischen Verschiebungen verweisen darauf, dass der Krieg in der Ukraine das unterschwellige Gären von einer neuen weltpolitischen Ordnung an den Tag bringt. Die Pax Americana und das westliche Normensystem werden dadurch herausgefordert. In diesen Beispielen spielt Europa weder eine politische noch ökonomisch und militärisch wichtige Rolle. Europa wird in diesem Karussell nur noch Zaungast sein. Es fehlen strategische Visionen und innovative Konzepte sowie alternative Partner. Die Regierungen Europas haben einerseits verschlafen eigenständige Narrative aufzubauen und andererseits geopolitische Fakten zu schaffen, die eine flexible und dezentrale Strategie ermöglichen. Es braucht holistische Sicherheitskonzepte und eine integriert Aussenpolitik.


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