Krieg in der Ukraine und die Spillover-Effekte

Der Krieg in der Ukraine ist auch nach über einer Woche traurige Realität. Die direkten Folgen für die Menschen in dieser Region sind verheerend. Das Swiss Institute for Global Affairs (SIGA) hat die geopolitischen Konsequenzen und möglichen Spillover-Effekte (dt. Übertragungseffekte) zusammengetragen:

(1) Verschiebung der geopolitischen Optionen:

  • Die Sanktionen gegen Russland, die Zerstörung der ukrainischen Wirtschaft und die ausfallenden Lieferketten werden im Mittleren Osten, in der Mittelmeer-Region und in Afrika massive Konsequenzen verursachen. Die Verteuerung und die verminderte Verfügbarkeit von Gas, Öl und Nahrungsmitteln schaffen neue Abhängigkeiten. Geostrategisch und regional positionierte Länder wie China, Türkei, Länder des Nahen und Mittleren Ostens sowie Russland können diese Realitäten ausnützen. Spillover-Effekt: Geoökonomische Dynamiken ermöglichen neue Allianzen.
  • Die klassischen Energiemittel des Westens werden als Achillesverse erkannt. Dies ermöglicht es dem Nahen und Mittleren Osten sowie Ländern Afrikas sich in der Energiegeopolitik neu zu positionieren. Beispiele hierfür sind etwa die Verfestigung der Beziehungen der Türkei mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) sowie die Re-Legitimierung konventioneller Energieträger. Spillover-Effekt: Die Debatte über neue Formen von Kernenergie wird mittelfristig in Europa von Relevanz sein.
  • Nahrungskrisen (insbesondere bei Korn und Weizen) können die Regionen um das Mittelmeer stark unter Druck setzen; u.a. sind Libanon, Libyen, Algerien, Tunesien und Ägypten von den Kornkammern Russlands und der Ukraine abhängig. Alternative Handelspartner und -länder werden gesucht. China wird weiterhin Korn und Weizen von Russland beziehen können. Damit kann China neue Abhängigkeiten gegenüber Drittstaaten im Mittelmeer-Raum und in Afrika schaffen. Spillover-Effekt: Neue Migrationsbewegungen können die Konsequenz sein aber auch Instabilitäten in Ägypten, Libyen oder Äthiopien können dabei verstärkt werden.   
  • Die Sicherheitsarchitekturen im Mittelmeerraum, im Mittleren Osten und in Afrika werden auf die Probe gestellt. Wer für Russland ist und wer nicht, ist uneindeutig. Diese Mehrdeutigkeiten ermöglichen fundamentale Verschiebungen der machtpolitischen Furchen. Spillover-Effekt: Es können neue Formen von Stellvertreterkriegen in Syrien, im Jemen und in Regionen Afrikas folgen.
  • Die Lateinamerikanische Sicherheitsarchitektur gewinnt an Bedeutung. Länder in Südamerika wie Venezuela, Brasilien, Argentinien, Nicaragua und Kuba hatten schon vor dem Krieg in der Ukraine ihre Allianzen mit Russland gestärkt. Von den westlichen Sanktionen kann Lateinamerika als ökonomische Ausweichregion profitieren. Dies könnte ein neues Sicherheitsrisiko für die USA werden – gerade dann, wenn China ebenfalls mit Lateinamerika strategische Partnerschaften aufbaut (vgl. China-Celac Joint Action Plan 2022-2024).  
  • China wird die Spillover-Effekte geostrategisch für sich ausnutzen und Abhängigkeiten auf allen Ebenen und in unterschiedlichsten Sphären schaffen. Gleichzeitig wird sich China rhetorisch als neutral darstellen wollen und sich somit als Vermittler inszenieren.

Es ist zu befürchten, dass schon kurzfristig der Krieg in der Ukraine als grosses geostrategisches Probing angesehen werden muss, bei dem letztlich autoritäre Staaten gestärkt hervorgehen können. Regionen Lateinamerikas, der Mittlere Osten und der indopazifische Raum mit China im Zentrum werden sich als neue Alternativen gegen westliche Demokratievorstellungen aufbauen. Es ist nicht auszuschliessen, dass mittelfristig auch Staaten in Europa sich dieser neuen Alternative anschliessen werden, weil die Abhängigkeiten zu gross sind und die Resilienz zu klein. Die geopolitischen Realitäten und Optionen, die Putin schafft, richten sich an die Welt und nicht an Europa. Es ist höchste Zeit, dass Europa den Begriff «Strategie» wieder anfängt in ihr Vokabular aufzunehmen. 

(2) Neue Realitäten werden geschaffen:


  • Das neue Söldnertum: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski ruft zu einer Internationalen Brigade auf mit freiwilligen und zivilen KämpferInnen aus dem Westen. Mit solchen Aufrufen kommt es zu einer Normalisierung und Umdeutung des Krieges. Neue Formen von Söldnertum, etwa verbunden mit Crowdfunding, werden mittelfristig Probleme in der Ukraine selbst und den Ursprungsländern schaffen. Organisierte Kriminalität, Terrorismus und Hooliganismus könnten dadurch gestärkt werden. Zudem ergeben sich ungeklärte Fragen des Kriegsvölkerrechts, wenn unkontrolliert ZivilistInnen unterschiedlicher Länder in den Krieg eingreifen. Neue Dynamiken und Eskalationspotenziale öffnen sich.
  • «Entnazifizierung» – eine rhetorische Keule: Putin hat von Anfang an von der «Entnazifizierung» gesprochen. Es war ein argumentatives Element, das zur Begründung des Einfalls verwendet wurde. Im Betroffensein hat der Westen diese narrativen Details ausgeblendet und dabei verpasst, dass Putins Strategie mittelfristig und geopolitisch leider eine Wirkung entfalten könnte, deren Dimensionen wir uns nicht bewusst sind. Der Westen hätten von Anfang an solch kontroversen Themen ohne Scheuklappen adressieren sollen, anstatt sie als Propaganda abzutun. In Bezug mit dem internationalen Aufruf an ZivilistInnen, sich am Krieg gegen Russland zu beteiligen, standen leider insbesondere rechtsextreme Kreise im Fokus. Dies wird Putins Narrativ bestärken. Es ist ein mögliches Indiz, dass mehr Kalkül hinter den aktuellen militärischen Interventionen steckt, als angenommen wird.
  • Nato als Institution wird herausgefordert: Die Reaktionen des Westens wirken teilweise überhastet. Sie zeugen von grosser Ratlosigkeit und einer schwachen strategischen Vorbereitung. Staaten des Westens liefern Waffen, die u.a. von schlechter Qualität sind und womöglich zu spät im Einsatz bereitstehen. Der fragwürdige Support von freiwilligen Kämpfern europäischer Staaten und der USA können als symbolpolitische Gesten wahrgenommen werden. Bestenfalls kann man dies als Überreaktion werten, schlimmstenfalls als Spillover-Effekt, der wieder auf den Westen zurückwirken und die Lage ungewollt weiter eskalieren lassen kann. Es stellt sich die Frage, wie lange die NATO die Doppelrolle von offiziell abwesend und zugleich mittels Mitgliederländern indirekt intervenierend (Waffenlieferungen und freiwillige Kämpfende) aufrechterhalten kann.
  • Der Angriff auf ein Atomkraftwerk ist ein militärisches Machtmittel. Die russischen Streitkräfte sind sich der Gefahren einer Explosion eines Reaktors mehr als bewusst. Der Anschlag auf Saporischschja hat vielmehr symbolische Bedeutung im Sinne von «russische Streitkräfte können höchst präzise Anschläge verüben, wenn sie dies wollen». Die Zerstörung eines Ausbildungszentrums auf dem Gelände des Atomkraftwerkes zeigt, mit welcher Präzision Russland Ziele in Angriff nehmen kann. Die mediale Hysterie im Westen ist daher kritisch zu hinterfragen.
  • Der Informationskrieg ist in vollem Gang. Es ist jedoch leider davon auszugehen, dass die ukrainische und westliche Informationshoheit vorwiegend den Westen umspannt und sehr kurzfristig orientiert ist. Russland und andere geopolitische Akteure kommunizieren für die längerfristige Informationsdominanz und eine weltweite Deutungshoheit.
  • Der einseitige mediale Fokus auf Kiew, Präsident Selinski und die Social Media Kampagnen lenken womöglich von anderen Themen und Regionen ab, die geostrategisch von höchster Relevanz sein könnten. So lässt die Berichterstattung beispielsweise grosszügig ausser Acht, dass Russland den Süden der Ukraine in die Zange nimmt, vor allem um Handelswege und allenfalls Ressourcen zu sichern. 

Diese neuen Realitäten müssen wir in Europa inhaltlich und strategisch deuten und einordnen können. Dies ist wichtig, wenn Europa eine glaubhafte und unabhängige Stimme – auch gegenüber den USA – heute und morgen sein soll.

 

Mehr dazu unter:

-        Krieg in der Ukraine und die geostrategischen Konsequenzen (SIGA-Beitrag)

-        SIGA-Dossier: Krieg in der Ukraine


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