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Die grenzüberschreitenden Aktivitäten der Tehrik-e Taliban Pakistan

KUNAR, AFGHANISTAN

September 2022

Während Bemühungen für Frieden zwischen der pakistanischen Regierung und der Tehrik-e Taliban Pakistan (TTP) in einem, wenn auch instabilen Waffenstillstand resultierten, führen TTP-Mitglieder ihre grenzüberschreitenden Aktivitäten, namentlich Propaganda, von ihren Refugien in Afghanistan aus weiter. Und der pakistanische Grenzzaun sowie von den afghanischen Taliban auferlegte Restriktionen limitieren dies höchstens beschränkt, wie das Swiss Institute for Global Affairs exklusiv zeigt.

TTP-Kommandant Abu Hamid, der durch ein Fernglas die umstrittene afghanisch-pakistanische Grenze betrachtet (Franz J. Marty, 2. September 2022)

Unruhiges Grenzland

Auf einer Anhöhe in der ostafghanischen Provinz Kunar stehend zeigt Abu Hamid zu den Bergen am nur etwa 3.5 bis 4.5 Kilometer entfernten Horizont. «Auf dem Kamm auf diesem Teil ist der pakistanische Grenzzaun», erklärte er. Abu Hamid ist nicht sein echter Name, sondern ein willkürlich gewähltes Pseudonym, da der lokale Kommandant der Tehrik-e Taliban Pakistan (TTP), der den Mitarbeiter des Swiss Instituts for Global Affairs (SIGA) Anfang September 2022 kurz einlud, um Anonymität bat.

 

«Wir halten uns an den von unseren [TTP] Anführern angeordneten Waffenstillstand», führte er weiter aus, nachdem er sich neben einen Felsen hinkauerte, auf den er sein AK-74-Gewehr ablegte, und durch ein Fernglas zum Grenzzaun blickte, der ihn von seiner Heimat trennt. «Aber wir überqueren die Grenze immer noch und sind immer noch auf der anderen Seite aktiv», fügte er hinzu.

 

Die Tehrik-e Taliban Pakistan (Bewegung der Taliban in Pakistan) wurde im Jahre 2007 gegründet und vereinigte eine Reihe von lokalen Männern von paschtunischen Stämmen, die das raue Grenzgebiet in Nordwest-Pakistan bewohnen und die in der Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001 und der U.S.-amerikanisch-geführten Intervention in Afghanistan begannen, offen die pakistanische Regierung zu bekämpfen, um diese mit einem islamisch(er)en Regime zu ersetzen. Ihre Feinde, namentlich die Regierungen von Pakistan und der Vereinigten Staaten von Amerika, haben die TTP als Terror-Organisation designiert. TTP-Mitglieder selber sehen ihren bewaffneten Kampf demgegenüber als einen gerechten Dschihad (heiligen Krieg) gegen das, was sie als Eindringen in ihre Heimat, welche semi-autonom war, und als eine legitime Verteidigung ihrer traditionellen und religiösen Werte an. Die Wahrheit ist, wie so oft, kompliziert und liegt irgendwo zwischen den genannten Positionen.

 

Wie dem auch sei haben Aufstandsbekämpfungsoperationen der pakistanischen Armee, insbesondere die Operation Zarb-e Azb im Jahre 2014, tausende von Stammesleuten, inklusive regulären Zivilisten aber auch TTP-Mitglieder, aus ihren Häusern in den pakistanischen Stammesgebieten über die nahegelegenen umstrittene afghanisch-pakistanische Grenze getrieben, wo sie Zuflucht fanden. Paschtunische Gastfreundlichkeit und die Tatsache, dass ihre Gastgeber auf der afghanischen Seite regelmässig nicht nur Paschtunen waren, sondern zu den selben Stämmen gehörten, machte dies einfacher. Abu Hamid ist einer dieser muhadscherin, das arabische Wort für ‘Flüchtlinge’, welches auch in der lokalen Sprache Paschtu verwendet wird, und lebt seit Jahren in Grenzgebieten der ostafghanischen Provinz Kunar, wo SIGA ihn besuchte. Der Name des exakten Wohnortes von Abu Hamid wird absichtlich nicht genannt, liegt jedoch nur ein bis zwei Stunden Autofahrt von der Hauptstrasse in Kunar entfernt.

 

«In diesem Gebiet gibt es ungefähr 50 TTP-Häuser», antwortete Abu Hamid auf die Frage nach der Grösse seiner Gruppe. «Und in jedem Haus hat es zwei bis drei bewaffnete Männer; alle zusammen bilden fünf delgais (Kampfeinheiten)», fügte er hinzu. Dies beläuft sich auf 100 bis 150 Kämpfer an einem Ort direkt neben der umstrittenen Grenze.

Ein instabiler Waffenstillstand

Der von Abu Hamid erwähnte Waffenstillstand wurde am 29. April 2022 von der TTP-Führung im Zusammenhang mit dem muslimischen Feiertag Eid al-Fitr angekündigt; ursprünglich sollte er nur 10 Tage anhalten, wurde dann aber verlängert, zunächst bis Ende Mai 2022 und dann, in den ersten Juni-Tagen, schliesslich unbegrenzt. Der Waffenstillstand ist als vertrauensbildende Massnahme in fortlaufenden Bemühungen für Frieden zwischen der militanten Gruppe und der pakistanischen Regierung gedacht. Solche Bemühungen zur Versöhnung, inklusive Waffenstillstände, sind nicht neu, aber vergangene Versuche sind immer eher früher als später gescheitert (siehe beispielsweise hier). In der Tat ist der genannte, mehrere Monate dauernde Waffenstillstand wohl der bisher grösste Erfolg in Bemühungen, zwischen der TTP und der pakistanische Regierung Frieden zu schliessen.

TTP-Communiqué vom 2. Juni 2022, welches Friedensgespräche mit der pakistanischen Regierung bestätigt und eine unbegrenzte Verlängerung des Waffenstillstandes ankündigt (Quelle: https://twitter.com/TGhazniwal/status/1532424876535029760)

Der genannte Waffenstillstand und der derzeitige Status der Friedensverhandlungen sind aber alles andere als rosig. «Sie schiessen immer noch regelmässig über die Grenze», sagt Abu Hamid über die pakistanische Armee. Er zeigte dabei auf zwei offenbar verlassene Weiler zwischen der Anhöhe, auf der er stand, und dem pakistanischen Grenzzaun am Horizont. «Diese Häuser waren von anderen [pakistanischen] muhadscherin bewohnt, aber sie mussten erneut fliehen, als ihre Häuser von pakistanischen Mörsern unter Beschuss genommen wurden», erklärte Abu Hamid weiter. Er gab keinen genauen Zeitpunkt für den Mörserbeschuss an und dieser könnte vor dem Waffenstillstand stattgefunden haben. Schüsse, die Anfang September 2022 durch die Stille der Nacht hallten, bestätigten jedoch offenbar, dass die pakistanische Armee immer noch scharfe Munition an der und wahrscheinlich auch über die Grenze verschiesst.

 

Auf der anderen Seite begann die TTP seit 2. September 2022 erneut, Angriffe in Pakistan für sich zu beanspruchen; per Ende September 2022, kam es bereits zu mindestens 39 solcher Bekennerschreiben und es gibt derzeit keine Anzeichen, dass solche Attacken enden werden. Meistens bezogen sich diese auf kleine bewaffnete Angriffe oder Attentate auf pakistanische Sicherheitskräfte. Die TTP beschrieben diese anerkannten Gewalttaten als «defensiv». Auch Abu Hamid versicherte, dass der Waffenstillstand ihm und seinen Männern das Recht vorbehalte, sich zu verteidigen. Zum Zeitpunkt von SIGAs Besuch in den ersten Septembertagen, sprich genau als das Beanspruchen von «defensiven» Attacken durch die TTP anfing, erwähnte Abu Hamid nichts über solche Angriffe durch seine Gruppe; es ist unklar, ob sich dies in der Zwischenzeit geändert hat. Im Allgemeinen ist es auch schwierig, wenn nicht fast unmöglich zu bestimmen, ob Anschläge in Pakistan von der afghanischen oder pakistanischen Seite der Grenze organisiert wurden.

 

Generell weisen Berichte von verschiedenen Quellen, die scheinbar vom Fehlen von Neuigkeiten über fortwährende Bemühungen für Verhandlungen zwischen der TTP und der pakistanischen Regierung bekräftigt werden, darauf hin, dass Friedensverhandlungen effektiv zum Stillstand gekommen sind und das Gewalttaten wieder zunehmen.

 

Wie dem auch sei, sassen Abu Hamid und seine Männer zu keiner Zeit tatenlos herum.

Subversive Grenzüberschreitungen

«Wir gehen regelmässig von einer Seite der Grenze auf die andere», insistierte Abu Hamid, wobei er angab, dass sie dies seit jeher getan hätten. «Der Grenzzaun ist komplett hier, aber wir schneiden Löcher in ihn und überqueren so die Grenze.» Diese Behauptungen wurde durch die Tatsache unterstützt, dass der SIGA-Mitarbeiter selber gesehen hat, wie ein Afghane, offenbar in privater Kapazität, Abu Hamid Bolzenschneider als Geschenk brachte. Die Bolzenschneider sahen alt und rostig aus, ein Mann versicherte jedoch, dass diese von bester Qualität — «Made in America» sagte er ohne Ironie — und kürzlich geschliffen worden seien.

 

Auf die Frage, wie einfach oder schwer es sei, die Grenze durch den Zaun zu überqueren, murmelte ein junger Mann, der in einer bescheidenen Lehm-Moschee neben Abu Hamid sass, nur «sehr schwer». Später auf der Anhöhe zeigte Abu Hamid weshalb: «die [pakistanische] Fauj (Armee) hat Grenzposten entlang des Zaunes; hier ungefähr alle 100 Meter oder so einen. Und diese schiessen auf jeden, der sich nähert.» Er gab zwei Beispiele aus den letzten Monaten an, in denen pakistanische Grenzwächter angeblich zwei Zivilisten nahe des Zaunes erschossen hatten: ein Mann sei dem Zaun zu nahe gekommen, als er Feuerholz sammelte, und der andere war Berichten zufolge ein Hirte. Keiner der beiden Fälle konnte unabhängig verifiziert werden. «Wir selber schleichen uns durch die Löcher, die wir zwischen den Grenzposten in den Zaun geschnitten haben. Wir überqueren den Zaun in der Dunkelheit der Nacht oder tagsüber wo anderer Schutz besteht, zum Beispiel durch Bäume», sagte Abu Hamid. «Und wir beobachten die Pakistanis. Genau so, wie sie uns beobachten», fügte er hinzu, während er erneut durch das Fernglas zur Grenze spähte.

Pakistanischer Grenzzaun und -posten auf einem Kamm wie sie aus der Ferne von einem Ort in Kunar Provinz, Afghanistan, gesehen werden können (Franz J. Marty, 2. September 2022)

Auf der pakistanischen Seite angekommen verstecken sich Abu Hamids Männer nicht in den Bergen, sondern gehen in Dörfer. «Wir laden Leute ein, sich unserer Sache anzuschliessen, rekrutieren sie», sagte Abu Hamid. «Wir besuchen namentlich Männer, die im Dienst der pakistanischen Regierung stehen, und sagen diesen, dass sie diese Arbeit beenden sollen und dass sie aufhören sollen, den Ungläubigen [sprich der als ungläubig gesehenen pakistanischen Regierung] zu helfen», fügte er an. Abu Hamid und seine Männer erläuterten nicht, wie genau sie dies machen und wie erfolgreich oder unerfolgreich sie damit sind.

 

Asfandyar Mir, ein Experte des United States Institute of Peace (USIP), der die TTP studiert, bekräftigte, dass die von Abu Hamid und seinen Männern beschriebenen Aktivitäten kein Einzelfall seien. «Es kommt zu illegal Überschreitungen des Grenzzaunes zwischen Südost-Afghanistan und Nord- und Süd-Waziristan in Pakistan und TTP-Mitglieder, die die Grenze dort überqueren, missionieren und betreiben Propaganda auf der pakistanischen Seite», erklärte Mir gegenüber SIGA.

Restriktionen durch die afghanischen Taliban

Für die afghanischen Taliban sind die Aktivitäten von TTP-Mitgliedern auf afghanischem Boden ein Thema, über das man nicht reden will. Regelmässig streiten die afghanischen Taliban die blosse Existenz, nicht zu sprechen von Handlungen, von TTP-Mitgliedern in Afghanistan rundwegs ab (siehe beispielsweise hier) und wenn sie dies anerkennen, stellen sie TTP-Mitglieder als Flüchtlinge, nicht Kämpfer, dar (siehe beispielsweise hier).

 

In der Praxis haben die afghanischen Taliban jedoch, seit sie im August 2021 die Macht in Afghanistan wieder ergriffen haben, mehrere Massnahmen angeordnet, die TTP-Mitglieder einschränken. Dies geschah offenbar in einem Versuch zu beweisen, dass sie verhindern können, dass Afghanistan eine Bedrohung für andere Länder ist. Die einzige angekündigte und beworbene dieser Massnahmen ist die Vermittlung von Friedensverhandlungen zwischen der TTP und der pakistanischen Regierung sowie des instabilen Waffenstillstandes, der aus diesen hervorkam. Die afghanischen Taliban beanspruchten dies offiziell zum ersten Mal am 18. Mai 2022 und stellten sich dabei als Vermittler für den dringend nötigen Frieden dar, haben aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon zuvor solche Gespräche aufgegleist.

 

Zusätzlich und ohne jegliche Ankündigung haben die Taliban auch andere, konkretere Schritte gegenüber TTP-Aktivitäten in oder aus Afghanistan unternommen. «Sie haben angeordnet, dass wir die pakistanischen Grenzposten nicht angreifen dürfen», sagte Abu Hamid SIGA gegenüber auf die Frage, ob die afghanischen Taliban ihm und seinen Männern irgendwelche Restriktionen auferlegt hätten. «Wir halten uns daran», fügte er hinzu, was offenbar durch den Umstand bestätigt wird, dass bewaffnete Auseinandersetzungen entlang der Grenze, obwohl solche manchmal vorkommen, eher selten bleiben.

 

Darüber hinaus gaben gewisse Berichte an, dass die afghanischen Taliban TTP-Mitglieder von Grenzgebieten weg umsiedelten. Während der angeordnete Umzug von Mitgliedern von Lashkar-e Islam, einer anderen kleinen pakistanischen Dschihadisten-Gruppe, die in Afghanistan präsent, aber nicht Teil der TTP ist, von mehreren Quellen bestätigt wurde (siehe zum Beispiel hier), konnte die angebliche Umsiedlung von TTP-Mitgliedern nicht verifiziert werden. Eine gut platzierte Quelle bestritt gar glaubhaft, dass die afghanischen Taliban den Umzug von TTP-Mitgliedern angeordnet hätten und erklärte, dass gegenteilige Berichte offenbar fälschlicherweise die Umsiedlung von Mitgliedern von Lashkar-e Islam oder anderen nicht-TTP Stammesleuten als Umsiedlung von TTP-Mitgliedern deuteten.

 

Auf einer weniger einschneidenden Ebene gibt es auch glaubhafte Berichte, wonach die afghanischen Taliban TTP-Mitglieder, die in Afghanistan leben, registrieren und diesen nur erlauben, Waffen zu tragen, wenn sie eine spezielle Bewilligung beantragen.

 

Wie dem auch sei sagte Abu Hamid, dass die afghanischen Taliban, obwohl sie ihn und andere TTP-Mitglieder in ihren Aktivitäten einschränken, die Überquerung des Grenzzaunes oder Aktivitäten weiter im Innern von Pakistan weder verhindern noch verbieten.

Das Dilemma der afghanischen Taliban

Das oben beschriebene Verhalten der afghanischen Taliban ist wahrscheinlich eine Konsequenz eines Dilemmas, das sich gut aus der folgenden kurzen Unterhaltung zwischen Abu Hamid und einem afghanischen Talib ergibt:

 

«Das Wichtigste ist derzeit das Weiterbestehen des Islamischen Emirates [von Afghanistan] [sprich der Taliban-Regierung in Afghanistan]; dementsprechend müssen Gruppen wie die TTP Zurückhaltung zeigen, um das Emirat nicht zu gefährden», sagte der afghanische Talib zu Abu Hamid. Gemeint war offensichtlich, dass grenzüberschreitende dschihadistische Aktivitäten aus Afghanistan wie die der TTP den Stand des Emirats der afghanischen Taliban in der internationalen Gemeinschaft weiter untergraben und das afghanische Taliban-Emirat, im Falle eines signifikanten Anschlages oder langfristig, gar ernsthaft gefährden könnten.

 

«Es ist wahr, das Fortbestehen des Emirates [der afghanischen Taliban] ist von hoher Wichtigkeit», stimmte Abu Hamid zu. «Aber Dschihad (heiliger Krieg) ist für alle Muslime — und das Emirat [der afghanischen Taliban] muss andere Muslime in ihrem Dschihad unterstützen», fuhr Abu Hamid fort. Damit machte er klar, dass die TTP zwar gewisse Einschränkungen akzeptieren, aber nicht Schritte, die sie daran hindern würden, ihren Dschihad weiterzuführen, um ihre Ziele in Pakistan, nämlich den Wechsel zu einem islamisch(er)en Staat dort, zu erreichen.

 

Der afghanische Talib erwiderte darauf nichts mehr. Der Grund war wahrscheinlich, dass er nicht wusste, wie der genannte realistische Ausblick mit dem ebenfalls beschriebenen ideologischen Imperativ vereinbart werden kann.

Franz J. Marty


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