PAKTIKA, November 2021
Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und dem Ende der meisten Kampfhandlungen versprachen die Taliban, Afghanistan wiederaufzubauen. Solche Bemühungen zeitigen bisher jedoch stark unterschiedliche Resultate wie ein Besuch des Swiss Institutes for Global Affairs (SIGA) in der südostafghanischen Provinz Paktika zeigt. Während an einigen Orten Strassen und Regierungsgebäude wieder in Stand gesetzt worden sind, haben die Taliban andernorts lediglich Schritte unternommen, die Tropfen auf einen heissen Stein gleichkommen und bestenfalls ungenügend durchdacht sind.
Ein Talib spricht mit einem Arbeiter, der eine Umfriedungsmauer um das Distriktsgouverneursbüro von Sarhausa Distrikt, Paktika Provinz, Afghanistan, baut (Franz J. Marty, 7. November 2021)
Taliban-Bemühungen zum Wiederaufbau Afghanistans
Nachdem die Taliban in einer Blitzoffensive in der ersten Hälfte des Augusts 2021 praktisch ganz Afghanistan übernommen haben, haben sie den Krieg für beendet erklärt und begannen den schwierigen Wechsel von einem bewaffneten Aufstand zu einer Regierung. Dieser Wechsel war bisher bestenfalls teilweise erfolgreich, was sich unter anderem am Beispiel von Bemühungen der neuen Taliban-Regierung zeigt, das durch über vier Jahrzehnte von Kämpfen versehrte Land wieder aufzubauen.
Die Taliban fokussieren dabei auf Strassen und Regierungsgebäude. Während die Taliban Arbeiten an gewissen Strassen begonnen und angepriesen haben, stehen Strassenarbeiten an anderen Orten seit der Taliban-Machtübernahme still (siehe hier). Darüber hinaus muss die Erneuerung von gewissen Strassen auch im Kontext gesehen werden. Anlässlich SIGAs Besuch der südostafghanischen Provinz Paktika rühmten sich die Taliban beispielsweise der Instandsetzung einer Brücke auf der Hauptstrasse im Distrikt Sarhausa. Dies war in der Tat der Fall, jedoch übergingen die Taliban dabei den Umstand, dass es auch die Taliban waren, die die Brücke zerstört hatten, da sie dort mit einem Sprengsatz bewaffnete Truppen der Mitte August gestürzten Regierung angegriffen hatten. Und dies ist nur eines von zahlreichen Beispielen, in denen die Taliban reparieren, was sie zuvor zerstört hatten.
Eine Brücke auf der Hauptstrasse im Distrikt Sarhausa, Paktika Provinz, die die Taliban repariert haben — nachdem sie sie selber zerstört hatten (Franz J. Marty, 7. November 2021)
Betreffend Regierungsgebäuden unterstrich Muhibullah Hamas, der stellvertretende Gouverneur der Provinz Paktika, dass Arbeiten für den Bau oder die Instandstellung von Distriktsgouverneursgebäuden in 9 von Paktikas 23 Distrikten begonnen haben. «Für andere Distrikte haben wir dem Innenministerium Pläne unterbreitet, jedoch noch keine Antwort erhalten», sagte Hamas SIGA weiter am 11. November 2021.
Einige Erfolge
In Sarhausa, dem bereits erwähnten Distrikt, der zwischen Paktikas Hauptort Sharana und dem historischen Zentrum der Provinz in Urgun liegt, haben Wiederaufbaubemühungen der Taliban Resultate gezeitigt. Mawlawi Mustafa Bahar, der Taliban-Gouverneur von Sarhausa, sitzt in einem ordentlichen, in Pastellfarben gestrichenen Distriktsgebäude. «Wir haben dieses Gebäude sowie das [gleich nebenan liegende] Polizeirevier mit Geld aus dem Budget der Provinzregierung renoviert», sagte Bahar SIGA am 7. November 2021. Und dies ist nicht das Ende der Wiederaufbaubemühungen in Sarhausa. Als SIGA das Distriktsgebäude Anfang November besuchte, waren lokale Arbeiter daran, eine Umfriedungsmauer zu bauen. «Wir haben Material von der alten HESCO-Mauer verkauft, um eine neue Steinmauer zu finanzieren», erklärte Bahar. «Die Arbeiter sind alles private Bürger und werden bezahlt», fügte er hinzu.
Mawlawi Mustafa Bahar, der Taliban-Gouverneur von Sarhausa Distrikt, Paktika Provinz, in seinem neu renovierten Büro (Franz J. Marty, 7. November 2021)
Die Arbeiter, die alle in nahegelegenen Dörfern in Sarhausa leben, bestätigen dies. «Reguläre Arbeiter erhalten um die 400 Afghani (ungefähr 4.40 U.S.$) pro Tag und Vorarbeiter zwischen 700 und 800 Afghani (circa 7.80 to 8.90 U.S.$)», wie einer der Arbeiter gegenüber SIGA sagte. «Zuvor gab es hier keine Bauarbeiten, aber das [Taliban] Emirat hat [seit der Machtübernahme Mitte August] solche begonnen», fügte ein anderer Arbeiter an. «Wir arbeiten für etwas weniger Geld als üblich, da das Emirat momentan nicht so viel Geld hat», erklärte derselbe Mann weiter, was darauf hinwies, dass nicht alles reibungslos verläuft.
Der Distriktsgouverneur Bahar und die Arbeiter versicherten weiter, dass der Bau von einer Reihe von Basarständen zwischen dem Distriktsgouverneursbüro und der Hauptstrasse geplant sei und dies die lokale Wirtschaft stimulieren und Stellen schaffen solle. «Dieses und andere Entwicklungsprojekte liegen zur Prüfung bei der Provinzregierung, die bisher noch nicht mit einem Entscheid geantwortet hat», sagte Bahar.
Verbleibende Probleme
In anderen Distrikten zeigt sich jedoch ein stark kontrastierendes Bild. In Paktikas abgelegenem Distrikt Gyan wurde das Distriktsgouverneursbüro in schweren Gefechten im Jahre 2012, als die Taliban das Distriktszentrum übernahmen, dem Erdboden gleichgemacht. «In der Vergangenheit konnten wir das Distriktsgebäude nicht wiederaufbauen, da wir Luftschläge und Nachraids fürchten mussten und da das Emirat damals auch keine Mittel dafür hatte», erklärte Mawlawi Rahmatullah Derwisht, der Taliban-Gouverneur von Gyan, SIGA. «Jetzt haben wir einen Plan zum Wiederaufbau an die Provinzregierung gesandt», fügte er an. «Als Antwort darauf hat die Provinzregierung eine Ladung Backsteine geschickt und versprochen, mehr zu liefern», sagte Derwisht weiter. Dem SIGA Fellow wurde der Haufen Backsteine, der auf einem brachliegenden Stück Land direkt neben dem Ort liegt, wo das Distriktsgebäude ursprünglich stand, später gezeigt, wobei diese kaum für den Bau eines einzelnen Zimmers ausreichen würde.
Ein Haufen Backsteine, die von Paktikas Provinzregierung als Unterstützung zum Wiederaufbau des Distriktsgouverneursgebäude in den Distrikt Gyan gesandt worden sind (Franz J. Marty, 10. November 2021)
Ähnlich sagte Bahtullah, der Direktor der Schule in Gyans Distriktszentrum, SIGA gegenüber, dass der stellvertretende Direktor des Bildungsdepartements von Paktika versprochen hätte, dass der Renovation des Schuldgebäudes in Gyan Priorität zukomme. «Die Provinzregierung hat bereits Wassertanks und Solarzellen geliefert und die Schule wird, so Gott will, renoviert», fügte Bahtullah hinzu. Da die Schule, die ungefähr 650 Schüler und 20 Lehrer zählt, in den meisten Räumen weder eine Decke noch ein Dach hat und auch generell nicht viel mehr als ein leerer, desolater Rohbau ist, ist der Entscheid, mit Wassertanks und Solarzellen zu beginnen, jedoch merkwürdig.
In der Tat scheinen die genannten Lieferungen von Backsteinen für ein Distriktsgebäude sowie von anderem Material für die Renovation der Schule zwar gutgemeinte Gesten zu sein, aber kaum effektive und durchdachte Pläne. Dies wird durch die Versicherung von Derwisht, dass per 9. November 2021 noch kein Vertreter der Provinzregierung Gyan besucht hätte, weiter verstärkt.
Im Allgemeinen und trotz des genannten Beispiels der Schule in Gyan, scheinen die Taliban nicht vorzuhaben, den Bau oder die Renovation von Schulen und Kliniken selber finanzieren zu wollen, sondern wollen dies anderen überlassen. «Für den Bau oder die Renovation von Schulen sind wir in Gesprächen mit Nichtregierungsorganisationen und den Vereinten Nationen, die versprochen haben zu helfen», erklärt Hamas. Dass dies einer Anerkennung der Tatsache gleichkommt, dass die Taliban weder bereit noch in der Lage sind, selber Gesundheitsdienste und ein Bildungswesen zur Verfügung zu stellen, scheint weder von Hamas noch von anderen Taliban als Problem wahrgenommen zu werden.
Selbsthilfe
In Anbetracht der gigantischen Aufgabe, ein Land nach über vier Jahrzehnten Krieg wieder aufzubauen, sowie dem Umstand, dass die Taliban eine dysfunktionale Verwaltung geerbt haben und durch ihre einseitige Machtübernahme von Afghanistan und der Ernennung einer Regierung, die fast gänzlich aus Mitgliedern der Gruppe besteht, von denen die meisten auf internationalen Sanktionslisten stehen, eine ganze Reihe neuer Probleme geschaffen haben, kann kaum erwartet werden, dass die Taliban selbst abgelegene Distrikte innerhalb weniger Monate wieder aufbauen können. Dementsprechend und angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass Afghanistan selbst im besten Fall nicht dasselbe Ausmass von Hilfe erhalten wird wie in den letzten zwei Jahrzehnten, ist das naheliegendste Szenario, dass Afghanen in abgelegenen Gegenden sich selber helfen müssen und kaum, wenn überhaupt Unterstützung von der Taliban-Regierung oder Hilfsorganisationen erhalten werden.
Im Distrikt Gyan, wo die Taliban bereits seit neun Jahren effektiv an der Macht sind, war dies bereits während den letzten Jahren der Fall. In Galai, einem entlegenen Dorf in Gyan, sagten Einwohner gegenüber SIGA, dass sie in Abwesenheit von Hilfe von der Regierung oder Nichtregierungsorganisationen Sachen selber in die Hand nehmen mussten und zum Beispiel die holprige Piste durch einen grossen Wald zu ihrem Dorf selber gebaut hätten. Ähnlich hatte auch die Schule in Gyans Hauptort Gemeinschaftshilfe organisiert, die in Afghanistan als ‘Dschanda’ bekannt ist und darin besteht, dass Gemeindemitglieder Geld, Baumaterial oder Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Dies hat jedoch nur sehr beschränkt geholfen und vermochte nicht, die Schule aus ihrem allgemein desolaten Zustand zu bringen.
Ein Grund für die beschränkten Resultate von ‘Dschanda’ / Selbsthilfe ist, dass Einheimische selber in der Regel nur sehr bescheidene Mittel haben und oft gar damit kämpfen, ihre eigene Familie über Wasser zu halten. Und dies wird angesichts des durch die Taliban-Machtübernahme verursachten wirtschaftlichen Abschwungs in Zukunft wahrscheinlich nur noch prekärer.
Bis zu einem gewissen Grad besteht jedoch auch eine fragwürdige Zuteilung der beschränkt verfügbaren Ressourcen in ‘Dschanda’. Während sich die Lehrer und einige Einheimische in Gyans Hauptort beispielsweise darüber beschwerten, dass ihre Schule nicht einmal ein Dach hat, verfügt das Dorf über eine luxuriöse Moschee, deren Grösse und Grandeur für die Bevölkerung übertrieben erscheinen. Auf diesen bemerkenswerten Kontrast angesprochen, erklärte ein junger Mann in Gyan, dass lokale Mullahs abgesehen von einigen Ausnahmen den Einheimischen sagen würden, dass sie zur ‘Dschanda’ für die Moschee und nicht für Schulen beitragen sollen. Und die Einheimischen hören offenbar auf die Mullahs. Die Mullahs hätten gemäss dem jungen Mann sodann im Gegensatz zu Lehrern auch Beziehungen, die es ihnen erlauben würden, Geld von ausserhalb von Gyan zu sammeln. Dementsprechend sei der Gedanke, die Selbsthilfe und Spenden gleichmässiger zwischen Moscheen und Schulen aufzuteilen laut dem jungen Mann nicht wirklich eine Option. Dies bedeutet jedoch auch, dass die Einheimischen diesfalls die Konsequenzen tragen müssen, wenn sie dies nicht ändern.
Die überdimensionierte Moschee, die alles andere in Gyans Distriktszentrum in den Schatten stellt (Franz J. Marty, 10. November 2021)
Ein Klassenzimmer in der desolaten Schule von Gyans Distriktszentrum (Franz J. Marty, 10. November 2021)
Angesichts all des oben Ausgeführten ist der Wiederaufbau von Afghanistan — sofern es zu keinen signifikanten Änderungen in der Haltung der Taliban kommen sollte, die für das Erhalten von mehr internationaler Unterstützung erforderlich wäre — ein enorm schwieriges Unterfangen. Und Bemühungen der Taliban, die mit Bargeldmangel zu kämpfen haben, und der lokalen Bevölkerung, die einer ein-, wenn nicht gar zusammenbrechenden Wirtschaft gegenübersteht, mögen lobenswert sein, bleiben jedoch blosse Tropfen auf den heissen Stein.
Franz J. Marty
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