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Die serbische Gretchenfrage

Auf den ersten Blick ist Serbien ein EU-Beitrittskandidat mit gesicherter, europäischer Zukunft. Auf den zweiten erkennt man jedoch zwei Seelen des nationalen Wesens Serbiens, die sich voneinander trennen wollen. Dabei ist im Alltag der Serben bei weitem nicht alles so poetisch wie in Goethes Faust, der Tragödie ersten Teil. Ein Blick hinter die Kulissen des Vučić-Theaters wagte kürzlich das Europa-Parlament. 

Würde man Staatspräsident Vučić die Frage stellen „wie hast du’s den mit dem Westen?“, würde er von russischen „Brüdern“, chinesischen „Freunden“ und europäischen und amerikanischen „Partnern“ reden.
Würde man Staatspräsident Vučić die Frage stellen „wie hast du’s den mit dem Westen?“, würde er von russischen „Brüdern“, chinesischen „Freunden“ und europäischen und amerikanischen „Partnern“ reden.

Andrej Ivanji

 

Aufgrund der Verfassung hat der Staatspräsident Serbiens ähnliche Befugnisse wie der deutsche oder österreichische Bundespräsident. In der politischen Praxis ist Serbiens Staatspräsident Aleksandar Vučić allerdings der unantastbare, allesbestimmende, unbestrittene Volksführer, dessen Willen sich das Parlament und die Regierung bedenkenlos beugen.

Schon ein oberflächlicher Blick auf die serbische Presse und Fernsehsender an einem beliebigen Tag würde reichen, um sich der Rolle Vučić‘ im politischen System Serbiens bewusst zu werden. Sie steht im krassen Gegensatz zur Rolle der Staats- und Regierungschefs westlicher Demokratien – und ist eher mit der politischen Dominanz von Wladimir Putin in Russsland oder Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei zu vergleichen.

Das serbische Zentrum für Forschung, Transparenz und Verantwortlichkeit CRTA gab an, dass sich Vučić allein im März 29-mal direkt über diverse TV-Sender an sein Volk wandte. Dadurch wird eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Volk und dem Volksführer hergestellt, staatliche und demokratische Institutionen werden umgangen.

die überpotente sns

Seine Machtposition übt Vučić von der Position des Führers der überpotenten Serbischen Fortschrittspartei (SNS) aus, die nach eigenen Angaben in einem Land mit knapp sechs Millionen Einwohnern rund 750.000 Mitglieder zählt (vergleichsweise zählte die deutsche CDU im Dezember 2017 427.173 Mitglieder). Ausgenommen acht Gemeinden regiert die SNS in allen Städten, Dörfern und Gemeinden Serbiens. Die gesamt Partei ist eingespannt, um den Personenkult ihres göttergleichen Chefs auszubauen.

Die SNS verfügt zusammen mit den in ihre Parteistruktur eingebundenen Koalitionspartnern über eine Dreiviertelmehrheit im serbischen Parlament, in dem gegenwärtig keine einzige Oppositionspartei vertreten ist. Relevante Oppositionsparteien boykottierten die Parlaments- und Kommunalwahlen Ende Juni 2020, sie bezeichneten die Wahlbedingungen als „undemokratisch und unfair“, warfen dem Regime vor, den Großteil der Medien, einbegriffen das staatliche Fernsehen, gleichgeschaltet zu haben und staatliche Institutionen als Druckmittel auf Wähler zu missbrauchen.

Vermittlerrolle der eu

Zur Absurdität der politischen Praxis Serbiens gehört, dass Vučić vorgezogene Parlamentswahlen für Anfang 2022 ausgeschrieben hatte, noch bevor die Regierung nach den Parlamentswahlen 2020 gebildet wurde, welche die SNS überlegen gewonnen hatte.

Vertreter des Europäischen Parlaments vermitteln nun in einem Dialog zwischen Regime und der Opposition über die Wahlbedingungen. Die Gräben zwischen Regime und Andersdenkenden sind seit der Machtübernahe der SNS 2012 so tief geworden, dass ein Dialog ohne ausländische Vermittler gar nicht mehr vorstellbar ist.

Oppositionsparteien verlangen in diesem Dialog über Wahlbedingungen vor allem die Öffnung der Medien. Politische TV-Debatten zwischen hohen Vertretern des Regimes und Andersdenken gibt es nicht, Vertreter des Regimes lehnen es ab, mit kritischen Medien zu kommunizieren. Die Opposition wirft dem Regime vor, über gleichgeschaltete Medien systematische Lynch- und Rufmordkampagnen gegen Andersdenkende zu organisieren.

Kritik aus Brüssel

Bisher war man in Brüssel mit Serbien sehr geduldig. Doch jetzt scheint man allmählich doch an der serbischen „EU-Perspektive“ auch offiziell zu zweifeln. In einem Ende Februar verfassten Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments wird „ernsthafte Besorgnis“ wegen des mangelnden „Rechts auf freie Meinungsäußerung und die Unabhängigkeit der Medien“ geäußert und geraten diesen „vorrangig anzugehen“. Man stellte in serbischen Medien „beleidigende Sprache, Einschüchterung und selbst Hassreden“ fest.

In dem Berichts wird von Serbien „nachdrücklich“ gefordert „überzeugende Ergebnisse zu liefern, einschließlich einer nachhaltigen Erfolgsbilanz mit wirksamen Ermittlungen in Problembereichen wie der Justiz, Meinungsfreiheit und Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität“, sowie „ihren Schwerpunkt auf grundlegende Reformen zu legen und strukturelle Mängel in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte sowie Funktionieren der demokratischen Institutionen und der öffentlichen Verwaltung anzugehen“.

Zwischen Ost und West

Ebenso zeigte man sich im Bericht des Europaparlaments besorgt „über die zunehmende Abhängigkeit Serbiens von Verteidigungsgütern und -technologien aus der Volksrepublik China und über die unzureichende Transparenz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge im Sicherheitssektor“ und die „enge politische und militärische Zusammenarbeit Serbiens mit Russland“. Man warf Belgrad vor seine Außen- und Sicherheitspolitik den Interessen von Moskau und Peking anzupassen, und nicht mit der EU in Einklang zu bringen.

Und erst an dieser Stelle kommt man zur eigentlichen serbischen Gretchenfrage. Würde man Staatspräsident Vučić die Frage stellen „wie hast du’s den mit dem Westen?“, würde er von russischen „Brüdern“, chinesischen „Freunden“ und europäischen und amerikanischen „Partnern“ reden. Zwar liegen die langfristigen Interessen Serbiens eindeutig in der Europäischen Union, doch das Herz der Serben klopft für das slawisch-orthodoxe Russland, das ja die Serben, im Gegensatz zum Westen, nicht bombardiert (Luftangriffe der Nato auf Serbien und Montenegro 1999) und den Serben nicht das Kosovo „mit Gewalt entrissen“ hätte. Solche Rhetorik hört und liest man täglich in den der SNS ergebenen Medien. 

Hinzu kommt, dass eine tatsächliche Annährung Serbiens an die EU bedeuten würde, die demokratischen, gesellschaftlichen, bürgerlichen und rechtsstaatlichen Standards Europas zu implementieren, was für ein autokratisches Regime bedeuten würde, den Ast, auf dem es sitzt, abzusägen.

Nach dem Einbruch der Pandemie sieht sich das Regime Vučić mehr denn je in seiner zwischen West und Ost ausbalancierten Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik bestätigt: Dank seinen betont freundschaftlichen Beziehungen zu Peking und Moskau ist Serbien eines der wenigen Länder in der Welt, das ausreichend mit Impfstoff gegen das Coronavirus versorgt ist. Serbien gehört zu den Weltführen in der Massenimpfung. Leben vor Politik, lautet die Parole, bei der man allzu gern auf irgendwelche demokratischen Standard vergisst. Hätte sich Serbien dem Druck der USA und der EU gebeugt und von Russland und China distanziert, wäre es heute nicht in der bevorzugten Lage die Massenimpfung allmählich zu Ende zu führen.

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