· 

Cyber, Geopolitik und Narrative

Allzu oft werden die Themen Digitalisierung und Cyber einseitig technisch diskutiert und behandelt. Damit kommt die umfassendere und strategische Bedeutung des Digitalen und der Cybersphäre zu kurz. Bei einer holistischen Betrachtungsweise des Cyberraumes verschiebt sich der Fokus von einem technischen Verständnis des Cyberspace hin zu einer narrativen, informationellen und symbolischen Perspektive. Machtpolitik, Infrastrukturen, strategische Kommunikation aber auch Normenverschiebungen sind strategische Elemente einer bewusst eingesetzten Cybergeopolitik. Am Beispiel der neu geschaffenen Strategic Support Force der People’s Liberation Army (PLA) der Volksrepublik China aber auch bei der chinesischen Digitalen Seidenstrasse zeigen sich diese geostrategischen Zusammenhänge exemplarisch.

Die Uneindeutigkeit des Begriffes Cyber

Der Begriff Cyber wird im Allgemeinen in höchst unterschiedlichen Zusammenhängen gebraucht: Cyberkrieg, Cyberwährung, Cybermobbing, Cybertruck, usw. Die Liste könnte beliebig erweitert werden, um die vielseitige und schon fast inflationäre Präsenz des Begriffs ‘Cyber’ zu belegen. Eine explizite Definition, was der Begriff Cyber ist und bedeutet, wird in den meisten Fällen nicht vorgenommen. Der allgemeine Konsens ist dann oft, dass Cyber etwas mit Computer und Internet zu tun habe. Gleichzeitig werden der Cyberraum und der sogenannte Informationsraum meist in einen Topf geworfen. Eine abstrakte, technologisierte und theoretische Sprache fördert aber viele Missverständnisse. Die Folge: Cyber wird mit der Welt der Informatik gleichgesetzt und Information wird auf Daten, Datenübertragung und Datenverarbeitung reduziert. So entsteht ein undifferenzierter Nexus, der problematisch ist. Diese Verkürzungen erschweren eine breite und interdisziplinäre soziotechnologische Debatte: Es wird nicht diskutiert, welche Auswirkungen diese Sphären auf die Kommunikation, die Sprache und Symbolebene, sowie auf die analogen Beziehungen und Menschen ausüben. Genau hinter dieser Popularität von Begrifflichkeiten wie Cyber aber auch Künstliche Intelligenz (KI), verbunden mit deren Uneindeutigkeit, lauert ein ungemeines Potenzial für geostrategische Machtprojektionen. Zwei Beispiele sollen diese Dimension beleuchten:

1. Chinas langfristige und tiefgreifende Digitalstrategie

China treibt parallel zur bekannten neuen Seidenstrasse (Land- und Seeweg) seine Digitale Seidenstrasse voran. Dabei geht es um Cyberinfrastrukturen und technologische Vorherrschaft. Unterseekabel, Glasfasernetze und riesige Datenzentren bilden das Rückgrat dieser Politik. Dazu gehört auch die weltraumbasierte Aufrüstung von Satellitennetzwerken, sowie die Vorherrschaft im Bereich 5G oder Expertise beim Thema Smart City. Vordergründig geht es also auch hier um Daten und Technologien. Es geht um Infrastrukturen, Hardware und Software.

Eine Ebene tiefer treibt jedoch China eine viel strategischere und längerfristige Agenda voran. China sitzt vermehrt und prominent in den internationalen Normen- und Standardisierungsgremien im Bereich Digitalisierung und Telekommunikation (vgl. ITU, ISO und IEC). Dort werden das internationale Recht und die Standards von morgen diskutiert. Die globalen Regulierungen für 5G, Kryptowährung, Blockchain, Künstliche Intelligenz, Internet of Things (IoT), Smart Cities, etc. werden hier gezimmert. Das heisst, dieser cybergeopolitische Einfluss ist viel nachhaltiger als die aktuelle technologische Dominanz in einem spezifischen Bereich, wie zum Beispiel Chinas 5G-Technologie. Das schafft langfristig normative Einflussmöglichkeiten und Abhängigkeiten. Sogenannte Normalisierungsstrategien im Bereich Cyber, das heisst die Etablierung von neuen oder bisher nicht anerkannten Vorgehensweisen und Anwendungen von Technologien, ermöglichen eine weitergehende und tiefgreifende Beeinflussung.[1] Die normative Macht zu definieren, zu verändern und durchzusetzen, welcher Einsatz von neuen Technologien als normal, akzeptabel und legitim gilt, wird oft unbemerkt oder unhinterfragt von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hingenommen. Damit erweitert China die regulatorische Ebene noch um eine normative.[2] Wissenschaft, Technologie und Fortschritt sind dabei nur die Steigbügel und Treiber einer holistischen und agilen geopolitischen Agenda.

2. Chinas Strategic Support Force

In der seit 2015 andauernden Mega-Reform der PLA hat Peking unter der Strategic Support Force (SSF) strategischer Nachrichtendienst, Weltraumkompetenzen, psychologische Operationen, elektronische Kriegsführung und Cyber zusammengezogen. Dies ist Ausdruck eines neuen militärischen Verständnisses von Joint (Verbund). Damit werden via Information und Kommunikation die klassischen Armeebereiche (vgl. Heer, Luftwaffe, Marine) gesteuert und dynamisiert aber auch neue Formen der Kriegsführung ausgelotet. So wie es für den Schutz des Luftraumes einen Luftschirm braucht, wird für den Cyberraum ein Cyberschirm benötigt. Bei der SSF zeigt sich aber, dass bei den Chinesen nicht ein einseitig technisches Verständnis von Cyber und Information vorzuherrschen scheint, sondern ein holistisches Verständnis. Sie sprechen von informationsgetriebenen Konflikten und Kriegen. Es geht um Informationsdominanz und Informationsüberlegenheit. Zusätzlich zum Cyberschirm braucht es also einen Informationsschirm. Interessant ist dabei, dass die in diesem Zusammenhang für ‘Information’ gebrauchte chinesische Zeichen (信息) vielmehr als ‘Nachricht’ übersetzt werden müssten. Es geht also nicht nur um Daten, Datenübertragung und deren Verarbeitung, sondern es geht um Inhalt (vgl. content). Im Englischen würde man dann eher von «Intelligence», d.h. «nachrichtendienstlich» sprechen und nicht einfach plump von Information und schon gar nicht von Informatik. Neben der innovativen Zusammenführung der Bereiche Weltraum und Cyber bestätigt gerade der Einbezug von nachrichtendienstlichen Elementen und der Fähigkeit von psychologischen Operationen bei der SSF die These eines ganzheitlichen Verständnisses von Informations- und Cyberraum. Es wäre in dieser Form ein «Kampf der verbundenen Waffen 4.0» (vgl. Joint 4.0). Der doktrinale Ansatz der «Three Warfares» der PLA spricht ebenfalls diese Sprache.[3] Rechtliche, psychologische und mediale Kriegsführung werden militärisch integriert. Das Konzept der Civil-Military-Fusion lässt zusätzlich auch die Grenzen zwischen Militär, Wissenschaft und Wirtschaft verschwimmen.[4] Soziokulturelle Projektionen (z.B. Konfuzius-Institute, Sprach- und Studentenaustausch, Stipendien, Forschungsprojekte, etc.)[5] werden zusätzlich via Einheitsfront gewährleistet. Narrative sind dabei der Haupttreiber und das verbindende Element hinter diesem holistischen und integrativen Multidomain-Ansatz, hinter diesem Joint 4.0.

Narrative Macht

Narrative werden damit zu einer dominanten Grösse oder sogar Waffe im globalen Kampf um Deutungshoheit. Ein Narrativ ist eine sinnstiftende, die Interpretation und Kontextualisierung beeinflussende Erzählung, welche Werte, Emotionen, Konnotationen sowie geschichtliche Bezüge transportiert und damit nachhaltig Legitimität generiert. Am stärksten sind diejenigen Master- oder Haupt-Narrative, die verschiedene andere Narrative miteinschliessen (vgl. Internarrativity und Spin Politics)[6] aber auch polyvalent und austauschbar einsetzbar machen. Wenn beispielsweise die innen- mit den aussenpolitischen Narrativen gut korrespondieren, kann sich die Macht pragmatisch entfalten. Chinas Präsident Xi Jinping schafft es dabei gekonnt seine Globalisierungsstrategie narrativ aufzugleisen. Die chinesische Führung verwendet für diese Strategie situationsgerecht diverse Ausdrücke wie Belt-and-Road-Initiative, «One Belt, one road», «Go Out Policy», «Going Global Strategy» oder dann auch «Chinese Dream». Man könnte von einer geopolitischen Storytelling- oder Brandingstrategie sprechen.

In diesem Zusammenhang erzählt Peking unterschwellig der Welt, den uneindeutigen, aber wirkungsmächtigen Begriff Cyber zu beherrschen und signalisiert damit, dass demnach im Bereich Digitalisierung kaum ein Weg an China vorbeiführt. Doch andere glauben zu lassen, dass man in der Lage ist zu manipulieren, ist vielleicht gerade so mächtig wie die Manipulation selbst.[7]

Urs Vögeli & Pascal Boss


[1] Vgl. KI-Einsatz mit dem Social Credit System oder zur Corona-Eindämmung, Umdeutung von Smart City als Safe City oder der Einsatz von synthetischen Medien (Deepfake), d.h. KI-manipulierten digitalen Inhalten.

[2] Kavalski (2014)

[3] Livermore (2018)

[4] Vgl. Fritz (2019)

[5] Vgl. Pan/Lo (2017)

[6] Plummer (2019) und Reginold (2018)

[7] Vgl. Beispielsweise Bonfanti (2020): «[T[he perception that nothing can now be believed because of the possibility of creating ‘authentically false’ or ‘falsely authentic’ digital content would have a destabilising impact on civil society as a whole; an impact greater than the effect that would result from an actual abuse of these media.»

Literatur:

Bonfanti, Matteo E. (2020): The weaponisation of synthetic media: what threat does this pose to national security? In: ARI 93/2020, 14 July 2020. Elcano Royal Institute.

Costello, John/McReynolds, Joe (2019): China’s Strategic Support Force: A Force for a New Era. In: Saunders, Phillip C/Ding, Arthur S/Scobell, Andrew/Yang, Andrew N.D./Wuthnow, Joel (eds.): Chairman Xi Remakes the PLA – Assessing Chinese Military Reforms. Washington D.C.: National Defense University Press.

Fravel, M. Taylor (2015): China’s New Military Strategy: «Winning Informationized Local Wars». In: China Brief, Vol. 15, No. 13, 3-7.

Fritz, Audrey (2019): China’s Evolving Conception of Civil-Military Collaboration. In: China Innovation Policy Series August 2, 2019. Center for Strategic & International Studies.

Hagström, Linus/Gustafsson, Karl (2019): Narrative power: how storytelling shapes East Asian international politics. Cambridge Review of International Affairs, 2019 Vol. 32, No. 4, 387–406.

He, Baogang (2019): The Domestic Politics of the Belt and Road Initiative and its Implications. In: Journal of Contemporary China, 28:116, 180-195.

Kania, Elsa B./Costello, John K. (2018): The Strategic Support Force and the Future of Chinese Information Operations. In: The Cyber Defense Review, Vol. 3, No. 1, 105-122.

Kavalski, Emilian (2014): The Shadows of Normative Power in Asia: Framing the International Agency of China, India, and Japan. In: Pacific Focus, Vol. XXIX, No. 3, 303-328.

Livermore, Doug (2018): China’s «Three Warfares» In Theory and Practice in the South China Sea. Georgetown Security Studies Review (online). A Publication of the Georgetown University Center for Security Studies. (https://georgetownsecuritystudiesreview.org/2018/03/25/chinas-three-warfares-in-theory-and-practice-in-the-south-china-sea/#_edn2)

Pan, Su-Yan/Lo, Joe Tin-Yau (2017): Re-conceptualizing China's rise as a global power: a neo-tributary perspective. In: The Pacific Review 30:1, 1-25.

Plummer, Ken (2019): Narrative Power. The Struggle for Human Value. Cambridge: Polity Press.

Reginold, Remo (2018): Spin Politics – Machtpolitik anders lesen. Military Power Review der Schweizer Armee, Nr. 2/2018.